Farbige Folienausschnitte. © Marcel Urlaub / Volkstheater.

 
 

 

Die Inkommensurablen. Raphaela Edelbauer.
Schauspiel.
sputnic / Nils Voges. Volkstheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. Dezember 2023.

 

> "Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige." Was Voltaire für die Literatur statuierte, gilt auch fürs Theater. Auf beiden Gebieten lässt sich die Entste­hung von Langeweile auf zwei Faktoren zurückführen: (a) auf hohe moralische und (b) auf hohe formale Ansprüche. Sie bewirken, dass die Fächer Religion und Mathematik bei den Schülern als langweilig gelten und "Die Inkommensurablen" am Volkstheater Wien durchhängen. <

 

"Die Inkommensurablen" gehen auf einen diesen Frühling erschienenen Roman von Raphaela Edelbauer zurück. Die Handlung erzählt von einem 17-jährigen Tiroler Bauernknecht, den es bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Wien verschlägt. Und da taucht schon eine weitere Quelle von Langeweile auf: Einfalt. Wenn berichtet wird, dass sich Hans in den Zug setzt, erscheinen als Schattenspiel Dampflok und Wagen, und aus der Kulisse erschallt "tschu-tschu-tschu". Einfalt. Das Getrappel der Wiener Pferdehufe kommt aus beeindruckend tonechten Lautsprechern, und zwar in Dolby-Full-Surround-Mehrkanal-etc-pp-Technik. Einfalt. Offensichtlich ist, wie Nietzsche sagte, "im echten Manne ein Kind versteckt; das will spielen". Bei den "Inkommensurablen" betätigt es sich durch die freudige Verwendung von Ton und Bild.

 

Das Künstlerkollektiv sputnic, "Zauberei mit Narration und Technik, live animierte Theaterabende, mediale Szenografien für Bühnen, Installationen und Interventionen", liefert für die Uraufführung am Wiener Volkstheater "Bühne, Raum & Video". In der Kombination von Bühnen- und Lichtspiel sprechen vier Darsteller den von Nils Voges (dem Bruder des Intendanten) bearbereiteten Text; schlüpfen andeutungsweise in die Hauptfiguren; und bewegen farbige Folienausschnitte über vier an der Rampe aufgestellte Overheadprojektoren. Wer je mit diesem Medium zu tun hatte, bewundert die Fingerfertigkeit der Ausführenden und die Zuverlässigkeit des technischen Teams bei der Bereitstellung der Elemente.

 

Die patinabehaftete, veraltete Projektionstechnik markiert die Schnitt­stelle zwischen analogem und digitalem Zeitalter sowie Gegenwart und Vergangenheit. Die Bilder werden im Lauf der Aufführung hergestellt, zeigen aber ein Wien von 1914. Anderseits geben die Erscheinungen, psychologisch betrachtet, die Projektionen eines noch nicht volljährigen, naiven Bauernburschen wieder. Damit wird die Form zu Inhalt.

 

Hans glaubt, dass sich in seinen Gedanken die Gedanken der anderen spiegeln und umgekehrt. "Haben Sie je das Wort 'Psychose' gehört?", fragt die Analytikerin auf der Bühne. Der Wahnsinn des einzelnen ist der Wahnsinn der Epoche. Demzufolge verschmelzen Individuum und Kollektiv. Alle träumen vom vermeintlich reinigenden, stärkenden, heiligenden Stahlbad des Krieges.

 

Die meisten Menschen sind sich nicht einmal ihres Bedürf­nisses nach Konformität bewusst. Sie leben in der Illusion, eigenen Vorstellungen und Neigungen zu folgen, Individua­listen zu sein und als Ergebnis eigenen Denkens ihre Meinung gebildet zu haben – dass ihre Vorstellungen demnach also rein zufällig denen der Majorität entsprechen. Diese Übereinstimmung nehmen sie als Beweis dafür, dass "ihre" Vorstellungen eben richtig sind. (Erich Fromm.)

 

Mit dem Kunstgriff, dass die Aufführung den Traum eines Tirolers wiedergibt, ist die streckenweise Unbeholfenheit der Narration mit der Unbeholfenheit des Träumers erklärt. Dass dazu viel Bekanntes ausgebreitet wird, entspricht der Banali­tät des kollektiven Bewusstseins. Eins spiegelt das andere. Die Aufführung bringt demzufolge nicht einfach "die" Geschich­te, sondern eine mehrfach gebrochene Aktion: Der Traum von Hans berichtet von dessen Herkunft und Epoche, verfremdet durch das improvisatorisch anmutende Spiel der Darsteller, in das sich optische und akustische Zitate mischen, so dass das Publikum die Übersicht verliert und eine abwartende Haltung annimmt. Sein Bewegungsmelder im Hirn ist zwar nicht deakti­viert, hat aber wenig Anlass, das Licht einzuschalten. So führt im Theater der hohe formale Anspruch, kombiniert mit einem ebenso hohen moralischen Anspruch, zu Langeweile.

 

Gegen Ende der Aufführung wird der Titel erklärt: "Die Inkommensurablen". Der Begriff geht zurück auf die irrationalen Zahlen, wie sie sich zum Beispiel aus der Quadratwurzel von 2 ergeben. Der Ausschnitt aus einer Vorlesung zeigt auf der Bühne ein Viereck mit der Länge 1. In dieses kommt, anders eingefärbt, die Diagonale, welche die Basis für ein doppelt so grosses Viereck bildet. Die Demonstration ist für den Traum eines 17-jährigen Bauernknechts bemerkenswert und leitet in die Philosophie der Zahlen.

 

Irritierend jedoch, dass die gleiche Vorlesung schon vor einem Jahr an der Seine zu hören war. Im Théâtre National de la Colline hatte im Oktober 2022 "Racine carrée du verbe être" von Wajdi Mouawad Uraufführung (Die Quadratwurzel des Wortes Sein). Es scheint, dass das Phänomen der zeitgleichen Erfindung der Differentialrechnung durch Leibnitz und Newton jetzt an den Theatern von Paris und Wien eine Art Wiederholung gefunden hat. Nil novum sub sole.

 

Overheadprojektion ... 

... mit Patina ... 

... und Blingbling. 

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