Don Giovanni aux enfers. Simon Steen-Andersen.

Hin- und Rückfahrt zu den Opernhöllen in einem Akt.

Bassem Akiki, Simon Steen-Andersen, Thibault Welchlin. Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. September 2023.

 

> Ein Spektakel zum Schauen, Träumen, Dösen. Zu denken gibt es nichts. Zu verstehen auch nichts. Denn Simon Steen-Andersen bringt keine Oper, kein Drama, kein Stück, sondern eine Assemblage. Was in der Operngeschichte irgendwie mit Höllenfahrt zu tun hatte, montiert er zu einem zweistündigen Kaleidoskop, ohne dass daraus ein Prozess entstünde, etwa der Läuterung, der Einsicht oder der Verwandlung. Vor einem halben Jahrhundert nannte die amerikanische Musikindustrie das Verfahren "Medley", das heisst: Ineinanderwursten bekannter Melodien. Das kann man geschickt machen oder einfallsarm. In Strassburg passiert letzteres. <

 

Am Ende von "Don Giovanni" fährt "der bestrafte Wüstling" in die Hölle. Dieses Finale setzt das Strassburger Opernhaus an den Anfang von "Don Giovanni aux enfers". Die Aufführung beginnt mit dem Eintritt des steinernen Gasts. Der Diener beginnt zu winseln, der Herr dagegen ruft trotzig nein: "Ich bereue nichts!" Bassem Akiki dirigiert das Orchestre philharmonique de Strasbourg recht zahm, als wäre schon hier der Lebenssaft aus Mozarts Oper herausgeronnen. Die Stimmen von Christophe Gay (Don Giovanni), Damien Pass (der steinerne Gast) und François Rougier (Leporello) tönen wie durch Watte.

 

Später zeigt sich, dass alle Microports tragen. Simon Steen-Andersens Partitur führt nicht nur ins Repertoire der einschlägigen Unterweltsdarstellungen von Monteverdi (Orfeo), Berlioz (La damnation de Faust), Offenbach (Orphée aux enfers) und Boito (Mefistofele), sondern sie zieht auch die Klänge in elektronische Verfremdung und Verzerrung hinüber, so dass sich nun Schräges und Gerades, Analoges und Digitales zu immer neuen Clustern mischen, wie das dem deregulierten Regiment des Teufels und der postmodernen Kompositionsweise entspricht.

 

Der zur Hölle gefahrene Don Giovanni wird zum Wanderer durch die Unterwelt. Er begegnet den berühmten Gestalten des Jenseits wie Marguerite (aus "Faust"), Eurydike (aus "Orpheus"), Dante (aus dem "Inferno") und Macbeth (von Verdi); dazwischen verwandelt er sich in den Holländer (von Wagner) und Orpheus (von Monteverdi). Die Kostüme zum Höllenball steuert Thibault Welchlin bei. Alles übrige stammt aus der Hand von Simon Steen-Andersen. Ihm schreibt der Besetzungszettel zu: "Konzeption [und kompositorisch verfremdendes Arrangement der Klänge], Regie, Bühnenbild, Video, Licht."

 

Der Hauptakzent der Veranstaltung liegt auf dem Video. Unendlich lange (wie eben die Ewigkeit dauert) schweift die Kamera durch die Gänge, Korridore, Keller, Archive, Foyers, Fest- und Zuschauerräume des Opernhauses an der Place Broglie aus dem Jahr 1821. An den Raumfolgen können sich das Publikum und der Videokünstler nicht satt sehen. Um den Effekt ins Berauschende zu steigern, werden die beiden Darsteller von Teufel und Don Giovanni am Draht vom Boden aufgezogen. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen schweben sie durch die Eingeweide des Musentempels als Symbol der Hölle, kreisen vor dem Deckengemälde des Zuschauerraums als Symbol des Himmels und intonieren auf ihrem Flug die Arien der Verdammten. Dazu ertönt die Musik mal aus dem Graben, mal aus den Lautsprechern. Das Ganze ergibt ein Gebräu zum Schauen, Träumen, Dösen. Zu denken gibt es nichts. Zu verstehen auch nichts. Simon Steen-Andersen nämlich bringt keine Oper, kein Drama, kein Stück, sondern eine Assemblage.

 

Das Auftragswerk der "Opéra national du Rhin" und "Musica, festival international de musiques d'aujourd'hui de Strasbourg" in Koproduktion mit der königlichen Oper von Dänemark läuft in Strassburg viermal. Dann landet es in der Versenkung. Die zitierten Originalwerke aber werden noch lange weiterleben – nach uns ... und Simon Steen-Andersen.

 

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