Zwei Abenteuer des Lemuel Gulliver. Jerzy Broszkiewicz.

Stück.

Ensemble-Theater Wien.

Der Bund, 20. Juni 1980.

 

 

Internationales Festival Kleiner Bühnen:

Eine anforderungsreiche Angelegenheit

Das Ensemble-Theater Wien mit "Zwei Abenteuer des Lemuel Gulliver" im Kleintheater

 

Was ist davon zu halten, wenn nach der Pause ein Teil des Publikums nicht mehr in den Zuschauerraum zurückkehrt? Was bedeutet es, wenn in der fünften Reihe jemand einschläft? Was verrät das, wenn jemand ein Bonbon auspackt und mit dem Knirschen des Cellophanpapiers das stumme Ende der Darbietung sabotiert?

 

Es verrät, so vermute ich, dass die "Zwei Abenteuer des Leumuel Gulliver" zumindest bei einem Teil des Premierenpublikums nicht angekommen sind. Es besagt, dass die Produktion des Ensemble-Theaters Wien eine Reihe von Erwartungen nicht befriedigt hat.

 

Möglicherweise hatten jene, die das Theater während der Pause verliessen, einen durchgehenden Handlungsbogen erwartet, so etwas wie ein dramatisches Problem, das sich während des Spiels aufbaut und auf den Schluss (und die Lösung) zusteuert. Und als sie merkten, dass das Stück bloss aus Monologen und Grübeleien eines einzelnen Darstellers besteht, verzichteten sie auf den zweiten Teil, in der – richtigen – Annahme, hier werde sich kaum etwas Neues zeigen.

 

Und der Mann, der einschlief, hat anfänglich vielleicht versucht, den Gedankengängen Gullivers zu folgen. Aber die Abstraktheit der Überlegungen und die durchgehend intellektuelle Ebene des Spiels haben ihn mit der Zeit ermüdet. Um seine Resignation zu rechtfertigen, hat er sich vielleicht noch gesagt, bevor er einschlief: Ich bin nicht ins Theater gekommen, um zu arbeiten, sondern um mich unterhalten zu lassen...

 

Die Person schliesslich, die der Lust auf ein Bonbon nicht widerstehen konnte, hatte vom Theater möglicherweise ästhetische Genüsse erwartet. Und als sie die asketische Kost, auf die man mit Jerzy Broszkiewiczs Stück gesetzt wird, nicht mehr ertrug, versuchte sie, sich mit einem Täfeli für die Entbehrungen zu entschädigen.

 

Die "Zwei Abenteuer des Leumuel Gulliver" wird man also als eine Art Theater zu umschreiben haben, die anforderungsreich und ungewohnt ist. Das Stück ist mit äusserster Strenge gebaut, von exakter Symmetrie, und es besteht aus einfachsten Grundannahmen. Im ersten Teil zeigt es Gullivers Monolog vor einem (unsichtbaren) Zwergmenschen im Vogelkäfig; im zweiten Teil Gullivers Monolog im Vogelkäfig vor einem (unsichtbaren) Riesenmenschen.

 

Alles, was geschieht, geschieht in der Sprache. Sie ist es, die sich verändert, fluktuiert, Perspektiven eröffnet und Dimensionen andeutet. Die Inszenierung bringt ihre verschiedenen Ebenen zur Darstellung, ohne das Gedankliche je mit Theatralik zu überdecken.

 

So ist auch das Spiel von Robert Hunger-Bühler wie das Stück: kontrolliert, exakt, asketisch. – Wer Sinn hatte für derart vergeistigtes Theater, dankte am Schluss mit anhaltendem, freundlichem Applaus. An der Premiere war das die Mehrheit. Und das ist auch ein Zeichen. Aber ein gutes.

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