In der grauen Perücke: Mozart. © Felix Grünschloss.

 

 

Mozart und Salieri. Peter Shaffer, Alexander Puschikin.

Musikalischer Soloabend.

Nils Strunk, Andrej Agranovski. Badisches Staatstheater Karlsruhe.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. Januar 2023.

 

> "Amadeus", das Stück von Peter Shaffer, ist wegleitend, wenn es auch mit Passagen von Alexander Puschkin und improvisierten Publikumsansprachen des Darstellers angereichert wird. Anderer­seits fällt eine Reihe von Aspekten weg: Baron van Swieten, Stanzerl, der steinerne Gast in "Don Giovanni", die Zeichen der Freimaurer in der "Zauberflöte". Die Änderun­gen erklären sich dadurch, dass ein einziger Schauspieler auf der Bühne steht: Andrej Agranovski. Zusammen mit dem Regisseur Nils Strunk hat er den Stoff umgegossen in einen musikalischen Soloabend, der das Publikum in die Knie zwingt. Es bedankt sich dafür, dass es zum Applaudieren aufsteht. <

 

Der wunderbare Abend, der mit "Mozart und Salieri" am badischen Staatstheater Karlsruhe zustandekommt, verdankt seine Qualität dem Umstand, dass das reiche Schauspiel auf einen einzigen Begriff zurückgeht: Sensibilität. Das bedeutet, dass die Darbietung nicht zerfleddert. Ihr Facettenreichtum wird zusammengehalten von einem durchgehenden Können und einem durchgehenden Kerngedanken: der Konfrontation von Durch­schnitt­lichkeit mit Genie. Sie realisiert sich an der Begeg­nung Salieris mit Mozart. Dahinter liegt wieder der Begriff der Sensibilität. Die eine ist passiv: Sie nimmt auf, ver­steht, würdigt. Die andere ist aktiv: Sie bringt hervor, verwandelt nie Gesehenes, nie Gedachtes, nie Gehörtes in Töne. Die eine ist irdisch, die andere himmlisch.

 

Diesen Gegensatz bringt ein einziger Darsteller am Badischen Staatstheater auf die Riesenbühne des kleinen Hauses. Da warten verschiedene Gegenstände unter schwarzen Tüchern darauf, ins Spiel zu kommen und zu Stationen des Dramas auszuwachsen. Wenn sich Andrej Agranovski auf den Fauteuil setzt, verwandelt sich das Sitzmöbel in einen Thron und der Darsteller in den österreichischen Kaiser Josef II. Wenn sich der Darsteller mit weisser Perücke ans Klavier setzt, sieht man in ihm Mozart, und wenn er sich die Perücke vom Kopf reisst, Salieri.

 

Auch da bestimmt Sensibilität den Ablauf: Wie sich der Raum ausweitet (für seine Bespielung zeichnen der Schauspieler und der Regisseur gemeinsam); wie er sich durch die Gänge und Diagonalen mit Spannung füllt; wie die Veränderung des Lichts Tiefe und Atmosphäre herstellt ... da bildet das Raumgeschehen eine Partitur für sich. Die Regulierung lässt sich feiner und genauer nicht denken. Das Spiel mit der dritten Dimension führt dazu, dass das Publikum nicht nur von der Handlung ergriffen wird, sondern auch vom Raum: In ihm erscheinen die Figuren; in ihm kommen die Gedanken und Worte zum Ausdruck; und in ihm erklingt die Musik.

 

An dieser Stelle manifestiert sich die Sensibilität am packendsten: die Sensibilität Mozarts, die man bei dieser berückenden Aufführung nicht nur vernimmt, sondern auch begreift, und die Sensibilität des Schauspielers Andrej Agranovski, der mit seiner stupenden pianistischen Fertigkeit die Musikausschnitte so ins Feld führt, dass man glaubt, man höre sie zum ersten Mal. Gleichzeitig ist Agranovski nicht nur Klavierspieler, sondern auch Schauspieler. Das heisst, er spielt die Musik aus einer gespielten Person heraus, und aus dieser gespielten Person heraus kommentiert er die Musik, die er spielt. Mithin: dreifache Schichtung. Der Wechsel von einer Perspektive zur andern schafft den Facettenreichtum, der das Publikum zuerst in die Knie zwingt und am Schluss zum Aufstehen. Ein grosser Abend.

 

Mit blossem Haar: Salieri. 

 
 
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