Der Champagner war an allem schuld. © Wilfried Hösl.

 

 

Die Fledermaus. Johann Strauss.

Operette.

Tomáš Hanus, Leander Haussmann. Bayerische Staatsoper, München.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. Januar 2023.

 

> "Die Fledermaus", die zum Jahreswechsel 2022/23 an der Bayerischen Staatsoper wiederaufgenommen wurde, reicht so weit in die Vergangenheit zurück, dass das Haus schreiben muss: "Nach einer Inszenierung von Leander Haussmann". Wie im letzten Jahrhundert üblich, liegt der Besetzungszettel einem 124 Seiten starken Programmbuch bei. Es enthält 44 schöne Abbildungen und 44 gescheite Texte. Der Druck stammt aus dem Jahr 2003. Zusammengestellt wurde das Buch jedoch schon für die Premiere vom 22. Dezember 1997 unter Staatsintendant Sir Peter Jonas. Seither ist das Wasser ein Vierteljahrhundert lang zwischen den Isarbrücken hinuntergeflossen, und die "Fledermaus" macht das schmerzhaft deutlich. <

 

Dass die Münchner "Fledermaus" nicht von heute ist, zeigt sich daran, dass sie keine Spur von Wokeness zeigt (mit Ausnahme des Froschs im dritten Akt, der eine Fröschin ist; die Darstellerin Luise Kinseher sagt selbstironisch: "Wegen der Quote!"). Der Doktor Bl-bl-bl-Blind sto-sto-stottert immer noch, so dass der Sänger seine beiden Scherze anbringen kann, die aus dem vorletzten Jahrhundert stammen. Wie er ins Gefängnis geführt wird, erklärt er dem Frosch: "Ich bi-bi-bin nicht bl-blind, ich heisse nur so!" Und wie ihm Gabriel von Eisenstein die Perücke von der Glatze reisst, ruft er empört: "Wasser! Wasser! Wasserlauben Sie sich!" Sein Klient aber, der sich durch ihn schlecht verteidigt sieht, qualifiziert ihn mit den Worten ab: "Schweigen Sie, Sie Stotterbock!"

 

Handfester noch als bei allen "Fledermaus"-Inszenierungen der Vergangenheit landauf, landab geht Gefängnisdirektor Frank, ein Förderer junger Theatertalente, in der "Neueinstudierung" von Andreas Weirich der guten Adele ("Stubenmädchen bei Eisenstein") so an die Wäsche, als hätte er die Ausbildung bei Charles Dutoit gemacht. Zwischen September 2018 und April 2020 stand über den Weltstar in der englischsprachigen Wikipedia: "Er presste im Hotelaufzug sein Knie zwischen meine Beine und drückte sich mit seiner ganzen Gestalt über mich und versuchte, in mich einzudringen". – "Er drückte meine Handgelenke an die Wand und schob mich zum Bett. Seine Hose war im Bruchteil einer Sekunde unten, und er war in mir, bevor ich blinzeln konnte."

 

Diese Aussagen führten zur Auflösung von Dutoits Dirigier­verträgen beim Royal Philharmonic Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra, dem San Francisco Symphony Orchestra, dem New York Philharmonic Orchestra, dem Philadelphia Orchestra, dem Sydney Symphony Orchestra, dem Chicago Symphony Orchestra und dem Verbier Festival ... Im München unserer Zeit aber kann Gefängnisdirektor Frank seine Hand zwischen Adeles Schenkel schieben, als stünden Charles Dutoit und Harvey Weinstein noch in bürgerlichen Ehren.

 

Von vorgestern stammt auch die Personenführung. Die Sänger wissen nicht genau, wen sie verkörpern, was sie im Kostüm machen und in welcher Interaktion sie stehen. Sie wissen lediglich, an welche Stelle der weitläufigen Bühne sie zum Singen gehen müssen und dass sie dazu die Aufgabe haben, ein Requisit zu bewegen. Dass bei dieser Konzeption die Individualisierung des hundertköpfigen Chors wegfällt, versteht sich von selbst. Die Münchner "Fledermaus" stammt schliesslich aus dem letzten Jahrhundert.

 

Als Dirigent lässt Tomáš Hanus aufhorchen. Die Ouvertüre bei geschlossenem Vorhang, also unzertanzt und unbespielt (wie bis ins letzte Jahrhundert üblich), gestaltet er mit schönen Intensitäts- und Tempowechseln. Seine Zeichengebung ist exakt, engagiert und sehr gut lesbar. Nicht verwunderlich, dirigiert der musikalische Leiter der Welsh National Opera zur Zeit auch an der Mailänder Scala, dem Grand Théâtre de Genève, der Deutschen Oper am Rhein und der Wiener Staatsoper. Doch trotz seiner beeindruckenden Professionalität wackelt es immer wieder zwischen Bühne und Graben, namentlich bei den Ensembles des ersten Akts und bei Adeles Talentprobe im dritten Akt (aber da sind vielleicht die Finger des Gefängnisdirektors mitschuld). Dafür gelingt das Finale des zweiten Akts mit dem zauberhaften "Duidu, duidu, la la la!" vorzüglich. Man spürt, dass es Johann Strauss gelang, alle Beteiligten mitzureissen in den Himmel sprachlosen Glücks, und als stiller Voyeur geniesst man das mit.

 

Wäre die ganze "Fledermaus" auf dem Niveau gestanden, durch das sie ein paar kostbare Minuten lang heranreichte an die Vorgängerproduktion mit der Inszenierung von Otto Schenk und dem Bühnenbild von Günther Schneider-Siemssen und (jetzt tief atmen!) Carlos Kleiber am Pult ... dann müsste man flehen: Um Christi willen, behalten Sie die Perle auf dem Spielplan! Jetzt aber ist die Frage: Wann bringen Sie eine neue "Fleder­maus"? Ihre heutige ist passé.

 

Die Geliebte, der Gefängnisdirektor und der Liebhaber.

In der Neueinstudierung wird der Chor ist nicht individualisiert.

Dafür ist der Frosch eine Fröschin. "Wegen der Quote!"

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