Lauter Bettgeschichten. © Martin Sigmund.

 

 

Le Nozze di Figaro. Wolfgang Amadeus Mozart.

Oper.

Karsten Januschke, Christiane Pohle, Natascha von Steiger.

Staatsoper Stuttgart.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. November 2022.

 

> Das Problem dieser Wiederaufnahme (und wohl bereits auch der Premierenserie) liegt darin, dass niemand recht zu wissen scheint, was anzufangen ist mit Mozarts Opera buffa, ihren Noten, ihren Figuren. So wird hier das eine gemacht, dort das andere; die Aufführung bringt ein unausgesetztes Herumfingern, nicht ein Gestalten; und am Ende geht das Puzzle nicht auf. Demzufolge rutscht die Staatsoper Stuttgart mit dieser "Hoch­zeit" unter ihr Niveau. <

 

Die Oper beginnt mit Ausmessen. Figaro will wissen, wie sich das zugewiesene Zimmer, in das er nach der Hochzeit mit Susanna einziehen wird, für die Möblierung eignet. Die Bühne zeigt indessen kein Zimmer, sondern die Bettenabteilung eines Kaufhauses; und das Dienerpaar ist auch nicht das einzige, das Mass nimmt. Da hantieren noch ein paar andere weibliche Gestalten (Käuferinnen? Verkäuferinnen?) mit dem Messband; sogar ein Ladendieb treibt sich herum, der ein Kissen unter den Pullover steckt; und der Raum, eingerichtet von Natascha von Steiger, ist nicht mehr eng (Dienerstube), sondern gleich weit und gleich tief wie die Bühnenfläche der vormals könig­lich württembergischen Hofoper, mit einem Wort: grandios. Und damit laufen Werk und Produktion schon auseinander.

 

Vom zweiten Bild an wird das Ungereimte durch Grandiositäts­steigerung noch akzentuiert. Das Dekor beginnt, mit gleitenden Schlafzimmermodulen zu spielen, alle ausgerüstet mit Doppel­bett, Nachttisch, Nachttischlampe und Bildschirm. Ab jetzt spielt die Handlung nicht mehr im Kaufhaus, sondern im Mercure-Hotel, und mit der Aufreihung unterstreicht die Inszenierung, dass die "Hochzeit des Figaro" im engsten Wortsinn durchgehend, nämlich von Tür zu Tür und von Raum zu Raum, von Bettgeschichten handelt.

 

In der Oper aber liegt das Pikante darin, dass ein strenger Kodex dem freizügigen Sex entgegensteht. Die Komödie spielt im Ancien Régime, wo die Oberschicht Vorbildlichkeit zu repräsen­tieren hat. Darum muss der Graf (wie Don Giovanni) zu Lüge, List und Verstellung greifen, wenn er aussereheliche Befrie­digung gewinnen will. Die Zeitgenossen haben die Denunziation des Adels verstanden: "Da seht ihr's", jubelte das aufstre­bende Bürgertum, zu dem auch Mozart gehörte, "die Oberen wollen alle nur das eine!" Die Oper erschien drei Jahre vor der französischen Revolution; vorher war es verboten gewesen, Adelsfiguren in der Komödie zu verwenden. Mit dem Aufkommen bürgerlicher Moralvorstellungen darf jetzt aber dem Grafen für seine Scheinheiligkeit auf die Finger geklopft werden, und am Ende muss er vor der Ehefrau reumütig zu Kreuze kriechen.

 

Wenn nun aber die Inszenierung von Christiane Pohle in der Gegenwart spielt, fällt der Gegensatz zwischen Adel und Volk, Herrschaft und Dienerschaft weg. Unter Gleichgestellten braucht man keine Schneckentänze zu machen; man braucht keine Moral- und Anstandsrücksichten zu nehmen; man braucht, um zusammenzukommen, weder Papier noch Feder, und als Siegel weder Wachs noch Nadel - Handy genügt. In dieser neuen Lage laufen von Anfang an Text, Musik, Handlung und Figuren auseinander, und die Elemente sind nicht mehr auf die Reihe zu kriegen.

 

Durch seine Inkohärenz wird der Stuttgarter "Figaro" zu einem Musterbeispiel inszenatorischen Zu-kurz-Greifens. Das Debakel verschärft sich durch den Umstand, dass keiner der stimmlich unterschiedlichen Sänger seine Rolle gefunden hat mit Ausnahme der Chargenträger (Altmeister Heinz Göhrig als Basilio und die Jungtalente Natasha Te Rupe Wilson als Barbarina sowie Alberto Robert als Don Curzio, beide Mitglieder des Opernstudios). Das Bewegungsrepertoire von Susanna, Gräfin, Figaro, Graf und Cherubino hat wenig Aussagekraft. Es wirkt uninspiriert und trifft weder den von der Rolle noch den vom Charakter verlang­ten Stil.

 

Unter der Leitung von Karsten Januschke erhebt das Staats­orchester Stuttgart ausser mehreren Wacklern keinen Einspruch gegen den Mangel an Durchgestaltung. Die Ouvertüre exekutiert es so schnell, dass die Phrasen nicht zu Ende gespielt werden können und die Nebenstimmen untergehen. Dann wieder tritt die Komposition an Ort. Im letzten Jahrhundert hätte die Kritik dem Ganzen "Mangel an Beseelung" vorgeworfen. Auch wenn die Begrifflichkeit veraltet ist - sie trifft die Sache. Der Stuttgarter "Figaro" ist kein Must.

 

Voyeurismus. 

Solodepression. 

Erotischer Kitzel. 

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