"Samson": Eigentlich mumifiziert. © Candy Welz.

 

 

Samson. Joachim Raff.

Musikdrama.

Dominik Beykirch, Calixto Bieito. Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. November 2022.

 

> Totgeburt nach 170 Jahren. Mit epochaler Verspätung bringt das Deutsche Nationaltheater Weimar ein Werk zur Uraufführung, das nicht zu retten ist. Was immer Joachim Raff, deutscher Komponist schweizerischer Herkunft, mit seinem "Samson", einem "Musikdrama in drei Abteilungen", angestrebt haben mag - die andern haben es besser gemacht; namentlich Richard Wagner und Camille Saint-Saens. Als dessen "Samson et Dalila" erschien, verlor Raff die Freude am Musikdrama und gab die Beschäftigung mit dem Genre Oper auf. Doch die Bescheidung nützte ihm nichts. Er geriet auch als Symphoniker in Vergessenheit. Schicksal. Was immer er komponiert hat - die andern haben es besser gemacht. <

 

Es gibt einen Lokalbezug zu Weimar. Franz Liszt, der hier von 1843 bis 1861 als Kapellmeister wirkte, unterstützte Joachim Raff, das aufstrebende Talent aus Lachen im Kanton Schwyz, und liess dessen erstes Bühnenwerk "König Alfred" im März 1851 am Hoftheater zur Uraufführung kommen. "Es wurde ein grosser Erfolg, und Raff war überglücklich", berichtet die Dramaturgin Judith Drühe; "ein überregionaler Erfolg blieb dem Werk trotzdem verwehrt". Dasselbe Schicksal erwartet nun, mit der epochalen Verspätung von 170 Jahren, auch Raffs zweite und letzte Oper, wobei von einem lokalen Erfolg diesmal nicht die Rede sein kann. Prophetisch überschrieb die Dramaturgin ihren Programmheftaufsatz mit dem Titel: "Samson - eine Oper ohne Publikum"; und in der Tat, zwei Monate nach der Uraufführung waren am Freitagabend, den 18. November nicht zwanzig Prozent der Plätze im Deutschen Nationaltheater besetzt.

 

Joachim Raff machte verschiedene Fehler. Sie lassen sich in dem einem Satz zusammenfassen: Er wollte es zu gut zu machen. Wenn Richard Wagner in seinem kurz zuvor erschienenen "Lohen­grin", der Raff tief beeindruckt hatte, nicht nur als Komponist, sondern auch als Librettist aufgetreten war, so ging es dem ambitionierten Schweizer bei "Samson" darum, das Muster nicht nur zu imitieren, sondern zu übertreffen. Das Ergebnis: Anwartschaft zum Karsch-Preis für die verstiegenste dramatische Versrede der deutschen Literaturgeschichte.

 

Ausserdem wollte Raff auch im Stofflichen Unüberbietbares leisten: "Er arbeitete intensiv und beschäftigte sich mit archäologischen, historischen und geographischen Aspekten des Themas. Er sollte diese Arbeit zwar nie beenden, aber sie brachte ihm detailliertes Wissen über realistische Szenarien, die in seine sehr genauen Ideen zur Umsetzung von Bühne und Kostümen mündeten. Im Briefwechsel mit Franz Liszt bezüglich einer Realisierung des 'Samson' ist zu lesen, wie pedantisch Raff nicht nur über musikalische Entscheidungen wie Besetzung, Dauer der Einstudierung etc., sondern auch über Bühne und Kostüme mitbestimmen wollte." (Judith Drühe)

 

Demgemäss hört man an der um 170 Jahre verspäteten Urauf­führung im Weimarer Nationaltheater die längst historisch gewordene Dramen- und Bühnenmaschinerie immer noch knarren und knarzen. Obwohl Regisseur Calixto Bieito, seinem Ruf entspre­chend, alle inszenatorischen Vorschriften pauschal beiseite­gewischt hat, spricht die Musik weiterhin von heidnischen und alttestamentlichen Choraufzügen mit Volks-, Priester- und Soldatenheeren, und sie arrangiert die Handlung zu einer Abfolge von malerischen Lokalen wie Tempel, Palast und fürstlichem Gemach, die damals in jedem Kulissenlager zur Verfügung standen. Dazu enthält die Partitur Zwischenspiele für die Umbauten sowie Ballettmusik für den Auftritt von Tänzerinnen und Tänzern im dritten Aufzug gleich vor der Katastrophe, wie es sich seinerzeit gehörte.

 

Das Werk, schon bei der Niederschrift mumifiziert, käme heute in werktreuer Inszenierung einem gefüllten Staubsaugersack gleich. "Wir müssen mit der menschlichen Intelligenz voranschreiten", schrieb der hellsichtige Chateaubriand. "Respektieren wir die Majestät der Zeit; betrachten wir mit Verehrung die vergangenen Jahrhunderte, die durch das Gedächtnis und die Überreste unserer Väter heilig geworden sind; aber versuchen wir nicht, zu ihnen zurückzukehren, denn sie haben nichts mehr von unserer Wirklichkeit, und wenn wir vorgeben, sie zu ergreifen, zerfallen sie."

 

Demzufolge richtet Calixto Bieito den Blick vom Historischen aufs Allgemein-Menschliche, und das heisst bei ihm: Gegen­warts­requisiten wie Rollkoffer, Fahrräder und Tretroller für die Auftritte, Gegenwartskostümierung für den Chor, körpernahe Gebärden, expressive Stöhnlaute und nackte Bäuche für die nicht nur stimmlich schwergewichtigen Solisten.

 

Das Weimarer Nationaltheater hat für "Samson" einen Regiestar eingeflogen, dessen Gage vom "Programm zur Internationa­lisierung der spanischen Kultur (PICE)" gesponsert wird, und dazu eine Sängerriege der ersten Liga, die sich der Aufgabe unterzogen hat, einen Part zu lernen, den sie nirgendwo mehr wird singen können. Die gleiche künstlerische Vorbildlichkeit zeigt auch die Staatskapelle Weimar unter Leitung ihres Chefdirigenten Dominik Beykirch. Auf ihn geht die Ausgrabung zurück: "Ich habe mich auf den ersten Blick in dieses Stück verliebt." Doch ach! Wenn er mit der Uraufführung nur gewartet hätte bis zu einer runden Zahl: 200. oder 250. Jahrestag der Niederschrift! Dann wären uns heute vier deprimierende Stunden erspart geblieben.

 

Expressive Stöhnlaute. 

Nackte Bäuche. 

Gegenwartskostüme. 

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