Eine Transe als Platée: ein Individuum, das querliegt. © Semperoper Dresden/Ludwig Ohlah.

 

 

Platée. Jean-Philippe Rameau.

Oper.

Paul Agnew, Rolando Villazón, Harald Thor, Suzanne Hubrich, Philippe Giraudeau. Semperoper, Dresden.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 22. November 2022.

 

> Inszenieren ist ein Liebesakt. Wenn man das Werk sensibel anfasst, geht es auf und steuert das Seine bei, damit aus dem Zusammenspiel von Umwerbung und Gewährung ein neuer, lebensfähiger Organismus zur Welt kommt, von dem nach der Geburt alle überzeugt sind: "So ein schönes Kind gab es noch nie!" Dieses Geschick vollzieht sich nun mit Platéé, dem hässlichsten Wesen unter der Sonne, für das Jean-Philippe Rameau die entzückendste Barockoper geschrieben hat. Die Semperoper Dresden gibt ihm eine Gestalt, die es uns nahe­bringt. <

 

Regisseur Rolando Villazón und sein Team sind tief ins Werk gedrungen und haben den vitalen Punkt erfasst, der die ganze dreistündige Oper zusammenhält. Das grundhässliche Wesen, durch dessen Exorzismus (heute: Bashing) die Welt der Götter und Menschen in Ordnung kommt (die krötenartige Moornixe Platéé), ist unter heteronormativen Gesellschaftsbedingungen die Transe, also ein Individuum, das querliegt, wohl irgendwie "so" ist, aber auch "anders", ein Amphibium mithin. Sein Lebensort ist der Sumpf, ein Zwischenreich, nicht ganz Land, nicht ganz Wasser. Doch wer nicht eindeutig ist, kann zu keinem Lager gerechnet werden. Darum befremdet seine Eigenart die Normalos und schweisst sie in der Ablehnung zusammen.

 

Wenn auch mit dieser Feststellung die DNA der Inszenierung umschrieben ist, so ist damit nur gesagt, dass die "Platéé" der Semperoper einen festen, überzeugenden Kern hat, aus dem sich alles weitere organisch entwickelt. Da Mobbing Unreife anzeigt, ist der Schulhof ein geeigneter Ort, um Rudelverhal­ten zur Darstellung zu bringen. Demzufolge beginnt die Aufführung in Dresden mit einer Pennälerfeier. Da kann jedermann, gewissermassen legitim, die Sau rauslassen. Und hier kommt bereits Philippe Giraudeaus Choreografie zum Tragen. Die Bewegungen des Kollektivs sind gleichzeitig erotisch, aufreizend und aggressiv. Sie spiegeln das Verhalten Jugendlicher, die in Banden durch die Innenstädte schweifen. Dramaturgisch erlaubt es diese Anlage, Chor, Solisten und Ballett in einem einzigen, belebten Eingangsbild zusammen­zufassen und die Oper dergestalt in Fluss zu bringen, dass im Zusammenwirken mit dem zupackenden Dirigat von Paul Agnew und dem Drive der sächsischen Staatskapelle Spannung entsteht. Die Dinge laufen auf etwas hin. Das wird in den ersten Spielminu­ten exponiert und in den restlichen drei Stunden durchgezogen. In summa: Reines Theaterglück.

 

Das Gegenstück zur Entfesselung bildet die Schuldisziplin, dargestellt durch die Schuluniform (Kostüme: Suzanne Hubrich). Dem Zwang der Erwachsenen-Institutionen möchte der Jugendliche durch den Beitritt zu einer selbstgewählten Peer Group entfliehen. Welche "in" ist, sagt der Trend. In der Aufführung verkörpert Merkur, der Götterbote, den Trendsetter. Er vermittelt zwischen Ideal und Alltäglichkeit, Jenseits und Diesseits, oben und unten. Der Sänger ist, wie alle anderen, körperlich agil, darstellerisch glaubwürdig und stimmlich einwandfrei. So realisiert das beeindruckend homogene Ensemble die verschiedenen Schichten des Dramas bis zum Theater im Theater bravourös. Harald Thors hintersinnigem Bühnenbild kommt dabei eine besondere Rolle zu. Nicht nur schafft es im Handumdrehen neue Räume, nicht nur erlaubt es die symbolische Lesart aller Lokalitäten (indem der Gegensatz zwischen Metropolis, Natur und Jahrmarkt aufgespannt wird), sondern die Trennung zwischen oben und unten, Götterreich und Menschen­welt, die durch eine schräge Decke entsteht, dient auch (und hier liegt der theatertechnische Kniff), als Klangmuschel, welche die Stimmen bündelt und nach vorne wirft.

 

Bemerkenswert macht die Aufführung, dass es die Beteiligten, angefangen mit Jean-Philippe Rameau, verstehen, den Ernst des Lebens in die Heiterkeit der Kunst hinüberzuführen und die kontroversen Dinge mit Humor und Anmut abzuhandeln. Die Dresdner "Platéé" aber liegt durch ihr sensibles Hintupfen quer in der heutigen Theaterlandschaft und vermittelt volles Theaterglück.

 

Das Abartige ...

... wird ausgestossen ... 

... und gemobbt.

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