Romeo und Julia. Peter I. Tschaikowsky. / Violinkonzert Nr. 1. Sergei Prokofjew. / Suite Nr. 3. Peter I. Tschaikowsky.

Symphoniekonzert.

Michail Pletniew. Orchestre de Paris. Philharmonie de Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. November 2022.

 

> Wer das Orchestre de Paris aufsucht, darf sich auf Ausser­ordentliches freuen. Das Erlebnis beginnt mit dem Konzertsaal, der Philharmonie de Paris, erbaut von Jean Nouvel. Sie sticht, wie sich mittlerweile herumgesprochen hat, die Elbphilharmonie aus, die ebenfalls nicht ganz schlecht sein soll. Das Orchester selber steht mit seiner Qualität ohnehin an der Spitze. Das Konzert vom 8./9. November dirigiert Michail Pletniew anstelle von Valerij Gergiew, der im Westen wegen seiner Nähe zu Putin nicht mehr beschäftigt wird. Dafür wirken fünf ukrainische Musiker mit. Sie helfen, ein rein russisches Programm mit Tschaikowsky und Prokofjew zu realisieren, und zeigen damit, dass die Kunst über dem Trennenden steht. <

 

Tschaikowskys Phantasie-Ouvertüre zu "Romeo und Julia" beginnt mit tiefen Streichern. Das Orchestre de Paris kann dafür acht Kontrabässe einsetzen, die tönen wie einer, so präzis ist das Zusammenspiel. "Es war einmal", sagt die Musik. Sie führt in ferne Zeiten und bringt die Tragödie zu Gehör: Die bleierne Atmosphäre von Verona; den Streit der Capulets und Montagues; die aufkeimende Liebe; den Sturm der Leidenschaft; das tragische Ende des jungen Paars in der Familiengruft. Das erzählt die Komposition. Das Orchester realisiert die unterschiedlichen Episoden mit fabelhaften dynamischen Abstufungen. Sie intensivieren die Farben - nicht nur der Instrumente, sondern auch der dramatischen Momente.

 

Die Wellen, in denen das Geschehen abrollt, haben dreidimen­sionale Qualität: Sie packen den Zuhörer; sie reissen ihn mit; sie ziehen ihn nieder. Dabei hat der Klang der Instrumente die Funktion von Farbtupfern auf einem impressionistischen Gemälde: Sie vollziehen mit ihrer distinkten Qualität ein Ganzes, das sich aus Elementen zusammenfügt und nicht aus Linien.

 

Mit dieser Faktur ist auch das nächste Stück charakterisiert: Sergei Prokofjews Violinkonzert Nr. 1. Es besteht aus Mosaiksteinen; einzelne sind farbig, andere matt; einzelne glänzend, andere rauh; einzelne glühend, andere kalt. Der perkussive Grundgestus der Komposition betont die Trennlinien, und Janine Jansen kann in einem Saal, der den leisesten Flageoletthauch bis in die hintersten Sitze hinaufträgt, den Zauber der Solostimme von der harten, auf Eklat hin angelegten Behauptung bis in die introversive Träumerei hinein entfalten. Orchester und Dirigent reagieren auf den Solopart mit bemer­kens­werter Sensibilität und weisen damit nach: Erst, wenn die Begleitung stimmt, gibt es Kunst.

 

Nicht anders ist die Anlage in Tschaikowskys Suite Nr. 3. Die Diversität wird schon durch die Gattungsbezeichnung "Suite" (zu deutsch: "Abfolge") ausgedrückt. Michail Pletniew, der neben der Dirigenten- auch eine beachtliche Pianistenkarriere vorlegen kann, verwirklicht in seiner Zeichengebung das Ideal des Primus inter pares. Er gibt und macht den Kollegen des Orchestre de Paris während des Konzerts nichts vor; er schaltet lediglich die Signale auf grün. In einer Zeit, wo allenthalben die Autokraten spriessen, zeigt "le chef" in der Philharmonie, dass sich Schönheit - und das bedeutet in der Musik: Glück an der Gegenwart - nur durch Respekt vor der Sache und den Beteiligten einstellt. Merke!

 

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