12 hommes en colère. Reginald Rose.

Schauspiel.

Charles Tordjman.  Théâtre Hébertot, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. November 2022.

 

> 1957 brachte Sidney Lumet "Twelve Angry Men" ins Kino. Aber das war nicht die einzige Filmadaptation des Gerichtssaal­dramas von Reginald Rose. Es gibt daneben einen deutschen, einen russischen, einen indischen, einen chine­sischen und einen libanesischen Film; mehrere Fernsehversionen und unzählige Theaterinszenierungen. Was das Stück interessant macht, tritt im Pariser Théâtre Hébertot zutage. Dort laufen die "12 hommes en colère" seit 2019, und sie erreichten bis heute 130'000 Zuschauer. <

 

Das Théâtre Hébertot ist ein privates Theater. Was es produziert, muss sich rechnen. Gerichtssaaldramen wie "12 hommes en colère" sind deshalb interessant. Der Mythos des Films lässt bei Erwähnung des Titels aufhorchen; macht also schon die halbe Werbung. Da das Stück keine Szenenwechsel verlangt, genügt ein Einheitsbühnenbild. Und da das Ganze in einer durchgehenden Sitzung abläuft, genügt ein Kostüm pro Darsteller. Die Mitarbeiter hinter der Szene können aufs Minimum heruntergefahren werden. Niemand muss Umbauten machen, niemand muss die Darsteller von der Garderobe auf die Szene rufen, denn es gibt weder Auftritte noch Abgänge. Das gesamte zwölfköpfige Schauspielerpersonal steht vom Aufziehen des Vorhangs bis zu seinem Fallen auf der Bühne.

 

Den Kostenpunkt bilden die zwölf Geschworenen. Um eine Stunde zwanzig auf der Bühne zu bestreiten, würde an sich eine einzige Person genügen, wie derzeit bei "Premier amour" im Lucernaire oder "Rien ne s’oppose à la nuit" an der Comédie-Française. Der Solist kann einen Bogen schmieden. Er kann sich durchs Spielen in Form bringen, eine Figur aufbauen und die Leistung zu einem Höhepunkt führen.

 

Bei einem Stück mit zwölf Personen sind ganz andere Talente erforderlich. Wer sie mitbringt, gehört zur Charge, das heisst den Nebenrollendarstellern. Sie sind in der Lage, eine Figur mit wenigen Strichen zu umreissen. Das Publikum spürt bei ihnen gleich, woran es ist, denn die Zeit, einen Eindruck schaffen, ist eng beschränkt. Deswegen verlangt "12 hommes en colère" zwölf Chargenspieler.

 

Wenn sie im Geschworenensaal zusammenkommen, um über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu beraten, weiss niemand etwas von ihnen. Im Rollenverzeichnis sind sie lediglich durch­numeriert. Es geht auch nicht um sie, sondern um das Verbre­chen, das einem 16-Jährigen zugeschrieben wird. Für ihn bedeutet Verurteilung den elektrischen Stuhl. (Die Handlung spielt im Jahr 1953.)

 

Der Dialog, auf zwölf Personen verteilt, ist für den einzelnen Spieler äusserst knapp. Während der Darsteller auf der Bühne ist, und zwar über lange Strecken unbeschäftigt, darf er, im Unterschied zum Film, nie in die private Befindlichkeit abtauchen (und etwa an ein Rendezvous denken), sondern er muss ständig in der Rolle bleiben, sonst würde er den Fluss stören, und das wiederum würde der Zuschauer merken, der stets die Totale vor Augen hat.

 

Aufgabe des Regisseurs – im konkreten Fall Charles Tordjman - ist es demnach, dem einzelnen Schauspieler zu helfen, seine Person zu finden und in ihr glaubwürdig, lesbar und konsistent zu werden. Daneben muss er auch die Blickweise des Publikums inszenieren. Natürlich schaut jeder auf die Person, die spricht. Aber die Aufmerksamkeit muss zuweilen auch auf jemanden gelenkt werden, der sich erst zum Sprechen anschickt oder der sich abgewandt hat. Im Unterschied zum Film muss man das auf der Bühne durch Haltungs- und Intensitätsveränderungen herbeiführen. Schnitte sind nicht möglich. Aber erst, wenn die Justierungen unbemerkt ausfallen, ist von Könnerschaft zu reden.

 

Bei den "12 hommes en colère" spielt die Besetzung eine eminente Rolle. Das Ensemble muss einen Querschnitt durch die Bevölkerung abbilden. Verschiedene Schichten, Temperamente, Intelligenz- und Bildungsgrade stossen aufeinander. Darum steht jeder Darsteller nicht nur für eine Person, sondern auch für ein Milieu und die damit verbundenen Anschauungs- und Verhaltensweisen. Je plausibler und unterscheidbarer sie ausfallen, desto farbiger wird die Aufführung und desto lebendiger die Teilnahme des Publikums, das sich mit einigen Figuren identifiziert und von anderen distanziert.

 

Bei den zwölf Geschworenen im Théâtre Hébertot geht es letzten Endes darum, zwischen Stück, Darstellern und Publikum ein Dreieck herzustellen, wo die Kräfte hin und her fliessen, so dass die Zuschauer zu Beteiligten werden und nicht zu Angeklagten, wie heute beim deutschsprachigen Schauspiel üblich. Dann erleben die Menschen, wie in Paris, das Theater als Vergnügen und nicht bloss als Qual.

 

 
 
 
 
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0