Ein alter Stoff von bedrängender Aktualität. © Tanja Dorendorf.

 

 

Guillaume Tell. Gioacchino Rossini.

Oper.

Sebastian Schwab, Amélie Niermeyer, Christian Schmidt, Axel Aust, Bernhard Bieri, Janosch Abel. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Oktober 2022.

 

> Am Ende hat die Vorstellung dreieinhalb Stunden gedauert; die letzten zwanzig Minuten steuerte das Premierenpublikum bei, mit enthusiastischen Bravorufen für eine exzeptionelle Sängerriege, ein ungemein wohldisponiertes Berner Symphonie­orchester unter Stabführung von Sebastian Schwab und ein Regieteam, das, angeführt von Amélie Niermeyer, mit Mut, Genie und Handwerk einem alten, belächelten Opernschinken neues Leben gab. Hinter der Auferstehung des "Guillaume Tell" stehen somit drei Verwandlungen: Das Statische kam in Fluss, das Konstruierte wurde packend und das Historische gegenwärtig. Dieses Ereignis wurde möglich, weil sich die Beteiligten dem Werk mit Liebe näherten: "Liebe ist das Privileg, eine Vollkommenheit zu bemerken, die anderen Augen unsichtbar bleibt." (Nicolás Gómez Dávila) <

 

An der Wand erscheint über Tells Kind ein Fadenkreuz. Es zeigt die Befindlichkeit des Schützen bei der Apfelschuss-Szene an. Die Hand ist nicht ganz ruhig. Zeitweise verschwimmt der Blick. Und in dieser Verfassung soll der Pfeil den Apfel treffen und nicht den Kopf?!

 

Mit dem Fadenkreuz macht Regisseurin Amélie Niermeyer am Kardinalpunkt der Handlung das Innere deutlich, nicht das Äussere. Sie intensiviert dadurch die Dimension des Menschlichen und verleiht der konventionellen Chor- und Heldenoper packende Unmittelbarkeit.

 

Denn wozu dient an dieser Stelle die Musik? Der Bühne Zeit für Gänge zur Verfügung zu stellen. Das Kind soll vom Publikum entfernt werden (damit der Trick mit dem Apfel funktionieren kann), und der Schütze soll sich in Position bringen, sagt das Libretto:

 

Jemmy ist an seinen Platz zurückgerannt. Der Apfel wird auf seinen Kopf gelegt. Tell überquert den Platz mit verstörtem Blick. Sein Auge fällt auf Gessler; die Hand berührt die Stelle, wo der zweiten Pfeil versteckt ist. Dann wendet er sich Jemmy zu, zielt und durchschiesst den Apfel.

 

Durch das suchende, leicht verschwimmende Fadenkreuz kommt die Oper, die sich, der damaligen Mode gemäss, aus einer Abfolge von Bildern (tableaux) zusammensetzt, in Fluss. Und damit stützt die Inszenierung das Werk: Die Bewegung auf der Bühne setzt sich ins Innere der Zuschauer fort und löst dort Erschütterung, Ergriffenheit und Anteilnahme aus.

 

Man sieht: Hinter dem Berner "Wilhelm Tell" steht eine dienende Haltung. Das Team bringt heraus, was im Werk angelegt ist, wenn es auch von uninspirierten Machern oft übersehen wird. Diese – sagen wir: "liebende" Konzeption hilft, jene Schwächen gerade­zubiegen, von denen auch Schiller, der geistige Vater des Librettos, nicht frei war:

 

Er griff in einen grossen Gegenstand kühn hinein und betrachtete und wendete ihn hin und her, und sah ihn so an und so und handhabte ihn so und so. Er sah seinen Gegenstand gleichsam nur von aussen an, eine stille Entwicklung aus dem Innern war nicht seine Sache.

 

Das erklärt Goethe, der seinerzeit Schiller den Stoff übergeben hatte:

 

Da ich andere Dinge zu tun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schiller völlig ab.

 

Nun aber hatte Schiller auch seine Schwächen. Nochmals Goethe:

 

Wie er überall kühn zu Werke ging, so war er auch nicht für vieles Motivieren [Begründen von Handlungen]. Ich weiss, was ich mit ihm beim "Tell" für Not hatte, wo er geradezu den Gessler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf des Knaben schiessen lassen wollte. Dies war nun ganz gegen meine Natur, und ich überredete ihn, diese Grausamkeit doch wenigstens dadurch zu motivieren, dass er Tells Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters gegen den Landvogt grosstun lasse, indem er sagt, dass er wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baum schiesse. Schiller wollte anfänglich nicht daran, aber er gab doch endlich meinen Vorstellungen und Bitten nach und machte es so, wie ich ihm geraten hatte.

 

Bei Rossini geht das Libretto nun wieder hinter Schiller und Goethe zurück:

 

Gessler nimmt einen Apfel von einem nahegelegenen Baum.

 

Die beim Übergang vom Schauspiel zur Oper verlorengegangene "Motivation" setzt nun Amélie Niermeyer für ihre Inszenierung wieder ein, wenngleich in abgewandelter Form. Gessler ist ein Apfel-Junkie. Bei seinem ersten Auftritt hält er einen Apfel in der Hand. Er hat ihn aus der Manteltasche geholt, wo noch weitere liegen, und beginnt provokant vor sich hin zu mampfen, während ihm das Volk zu Füssen liegt. Mit dieser ungescheut autokratischen Pose drückt er aus: "Mein Wohl ist mir wichtiger als das Wohl des Volks, mein Bauch liegt mir näher als das Leid der Menge."

 

Wie im Traum ist die Oper in dieses Bild hineingeglitten. Voran ging ihm das "premier tableau" des "troisième acte" mit Mathildes Arie. Im Original erklingt sie vor einer in perspektivischer Manier gemalten Kulisse: "Eine abgelegene, lächelnde Landschaft. Im Hintergrund eine kleine Kapelle." Technisch betrachtet spielt die Szene auf "kurzer Bühne". Ein "Prospekt" deckt die Mittelbühne ab, auf der sich das Ensemble für das "deuxième tableau" bereit macht, bei dem nach Aufgehen des Umbauvorhangs die "lange Bühne" erscheint:

 

Der grosse Platz von Altdorf, geschmückt mit Linden, Apfelbäumen etc. Im Hintergrund Gesslers Zwingburg.

 

Im Original gleicht der Ablauf einem Diavortrag. Vorhang auf: Bild. Vorhang ab: Umbau. Vorhang auf: Neues Bild. Bei dieser Struktur sind die Tableaux der Grand Opéra von Statik und Rampengesang geprägt.

 

Die Berner Produktion bringt jetzt aber die Ästhetik des Films – und damit der Moderne – in eine Handlung, die in der Schweiz des 13. Jahrhunderts spielt, uns aber durch den Krieg in der Ukraine auf unheimliche Weise nahegerückt ist.

 

Die Dynamisierung des alten Stoffs wird hervorgerufen durch die bewegte Drehbühne von Christian Schmidt. Sie steigert zusammen mit Bernhard Bieris Licht und Janosch Abels Video das Geschehen zu raumzeitlicher Übergänglichkeit, wo abge­legenes Mittelalter und bedrängende Aktualität zusammen­fallen.

 

Der Bezug zur Gegenwart wird intensiviert durch die gescheiten und gleichzeitig bedrückenden Kostüme von Axel Aust und die Modernität des Spiels aller Darsteller. Einzelne Chormit­glieder sind auf so eindrucksvolle Weise individualisiert, dass das Regieprinzip, Statik in Bewegung aufzulösen, sich bis in die Hand- und Gesichtsbewegungen hinein fortsetzt.

 

Zu Chor und Extrachor der Bühnen Bern auch ein Studierenden-Ensemble der Hochschule der Künste (HKB) dazuzunehmen, zahlt sich aus durch einen nie gehörten Wohlklang (dank der jungen Stimmen) und ein selten belebtes Spiel (dank der Hingabe der jungen Darsteller). Chorleiter Zsolt Czetner hat mit ihnen "Guillaume Tell" als Choroper auf eine Höhe gebracht, die man in Bern seit Anton Knüsels Zeiten nicht mehr erleben konnte.

 

Auch das Berner Symphonieorchester spielt heute auf einem Niveau, von dem Peter Maag nur träumen konnte. Alle Instrumentalsoli sind nicht nur einwandfrei, sondern ergreifend schön. Und die Sensibilität, mit der die Tutti-Spieler die Bewegung abnehmen, verwandeln und weiterführen, bringt die Partitur dermassen zum Leuchten, dass die Interpretation des Dirigenten Sebastian Schwab mit ihren klaren Konturen den Rang der Klassizität erreicht, obwohl der 1. Kapellmeister der Bühnen Bern doch erst 28 Jahre zählt.

 

Elf Solisten tragen die über dreistündige Handlung. Mit ihrer sängerischen und darstellerischen Homogenität realisieren sie ein Niveau, das die Berner Opernsparte in die Liga der ersten europäischen Häuser trägt.

 

Dieses Globallob, für die einzelnen Künstler beleidigend pauschal, wird noch penibler, wenn Masabane Cecilia Rangwanasha als Mathilde besonders erwähnt wird. Doch sie bot auch Besonderes: nämlich eine solche Fülle von Klangfarben, dass jede Melodielinie einen Bogen von tausend wechselnden Intensitäten beschrieb.

 

Mal schauen, wie lange es geht, bis die Opernfreunde aus Wien und Paris nach Bern kommen. Dann werden sie als erstes gegen zwanzig Minuten Premierenapplaus protestieren. Bei ihnen sind für einen solchen "Guillaume Tell" dreissig Minuten das Angemessene.

 

In moderner Kulisse ... 

... mit heutigem Spiel ... 

... passiert das Drama.

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