Und man versteht jedes Wort. © Matthias Horn.

 

 

Geschlossene Gesellschaft. Jean-Paul Sartre.

Schauspiel.

Martin Kušej, Martin Zehetgruber. Burgtheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2022.

 

 

> Mit der Inszenierung von Jean-Paul Sartres "Geschlossener Gesellschaft" (Huis clos) zeigt Martin Kušej, vormaliger Stückezertrümmerer und junger Wilder, dass er auch "altes Burgtheater" kann, und zwar mindestens gleich gut wie seine regieführenden Vorgänger Gerhard Klingenberg, Achim Benning und Claus Peymann. Zur Stunde kandidiert Kušej für eine Verlängerung des Vertrags. Die Burgtheater-Intendanz ist ausge­schrieben. In Wien werden verschiedene Namen herum­gereicht, darunter die frühere Schauspielhauschefin Barbara Frey. Mit "Geschlossener Gesellschaft" legt Kušej indessen ein mächtiges Argument für seine Wiederwahl ein. Denn besser kann man das Stück gar nicht aufführen. <

 

 

I.

 

Für den oberflächlichen Blick bedeutet "altes Burgtheater" soviel wie: "Goa nix mochn". "Werktreue". Mithin Langeweile. Simple, gedankenlose Routine, "Fadesse". Die landläufige Idee ist, dass der Regisseur bloss Leute auf die Bühne stellt und sagen lässt, was im Text steht.

 

Doch in Wirklichkeit bedeutet "altes Burgtheater" den Gipfel der Schauspielkunst. Mithin beiläufige Exzellenz. Zur Perfektion getriebenes Understatement. (Un)heimliche Klassizität: Man kann's nur so machen, wie's gemacht wird (nur so!), und niemand merkt's.

 

Altes Burgtheater: Perlen vor die Säue.

 

In dieser Verschwendung liegt der Luxus der Kunst.

 

 

II.

 

Was es damit auf sich hat, merkt man am Anspruch, den das "alte Burgtheater", und mit ihm Kušej, an die Zuschauer stellt. Es sind feinste Antennen erforderlich, um mitzubekommen, wie subtil die Intensitäten eingestellt werden und wie genau die einzelnen Spielmomente ineinanderfliessen. Wer Ohren hat zu hören, hört's. Wer Augen hat zu sehen, sieht's. Und wer nicht? An dem geht's vorbei.

 

Anspruch.

 

Ein elitäre Forderung.

 

 

III.

 

Joseph Garcin wird durch einen Kellner in den Saal geführt. Die beiden stehen eine Weile stumm vor der Szeneneinrichtung (Martin Zehetgruber). Dann stellt Garcin fest: "Da wären wir also."

 

Schlagartig baut sich in diesem kleinen, unscheinbaren "Da" schon das Ganze auf: Dass Joseph Garcin in der Hölle angekommen ist. Dass jetzt die Ewigkeit einsetzt. Dass von nun an alles nach Gesetzen geregelt wird, die hinauslaufen auf die unheimliche Situation der Ausweglosigkeit.

 

Es ist vorbei mit der Hoffnung, dass "es" (was auch immer) noch anders kommen könne. Und je länger die Aufführung dauert, desto belastender wird der Umstand, dass die drei Figuren, die Sartre zusammengeführt hat, durch ihre Eigenart einander die Seele zermüseln werden: "Die Hölle, das sind die andern." (L‘enfer, c’est les autres.)

 

Die Toten schmoren in der Sauce, die sie sich selber mit ihrem Wirken zubereitet haben. Jetzt gibt es kein Zurück mehr und kein Delete. "Hätt'st g'schaut", sagt das Stück. "Nun ist's zu spät."

 

Damit wird das Theater zum Spiegel: Wie nehme ich mich vor dem Seinsollenden aus?

 

Und Sartre sagt: Gehe hin und tue fortan das rechte!

 

 

IV.

 

Vier Personen tragen das Stück.

 

(1) Der Kellner, ein Angestellter der Direktion. Mit seiner unnahbaren Professionalität macht er spürbar, was für eine Verdammnis Beziehungslosigkeit bedeutet.

 

(2) Joseph Garcin. Er stellt sich vor als Journalist und Literat. Seine Berufsbezeichnung weckt die Hoffnung, Sprache könne durch die Herstellung eines neuen Bewusstseins Heil schaffen. Doch der weitere Verlauf zeigt: Sie schafft nur Illusionen und Lügen. Und darin liegt am Ende die Wahrheit: Das Wort muss durch die Tat gedeckt sein, sonst ist es wertlos. (Die Franzosen verspotten den Priester und den Politiker, indem sie zitieren: "Tut, was ich sage, und nicht, was ich mache!")

 

(3) Inès Serrano. Die Postangestellte mit der erfrischenden Geradlinigkeit der Unterschichtsleute wird unerträglich, nachdem sich gezeigt hat, dass sie das Für-sich-selber-Schauen mit der Muttermilch eingesogen hat. Hinter der Vulgarität lauert versteckter Egoismus, und Inès wird mit ihrer Schnäppchenjägermentalität den beiden Mitgefangenen die ewige Ruhe rauben.

 

(4) Estelle Rigault. Wie alle Parvenüs kultiviert sie die Vorurteile des Standes, in den sie aufgestiegen ist. Jetzt dient ihr die Einbildung als feste Burg. Von ihren Zinnen aus blickt sie auf die andern hinunter und geniesst es, sie durch ihre vermeintliche Dominanz zu erniedrigen.

 

 

V.

 

Martin Kušej besetzt die vier Personen mit vier Burgtheater­stars: (1) Christoph Luser, (2) Tobias Moretti, (3) Dörte Lissewsky, (4) Regina Fritsch.

 

Sie haben die Kraft, die Intelligenz und das Metier, das riesige, vollbesetzte, vier Ränge hohe Haus so zu bespielen, dass ihre Darstellung in jedem Moment glaubhaft ist. Durch die Kombination von Pausen, Gängen, Gebärden und Haltungen ruft ihr Zusammenspiel eine Vielfalt von Intensitäten hervor, als wenn ein Debussy-Quartett zur Aufführung käme.

 

Und man versteht jedes Wort.

 

"Altes Burgtheater". Eine Rarität.

 

 

VI.

 

Produktionen dieses Ranges können auch dialektisch gelesen werden. Dann sagt die "geschlossene Gesellschaft":

 

Das alte Burgtheater ist die Hölle. Es bedeutet endlose Wiederkehr des Gleichen.

 

 

VII.

 

Martin Kušej muss Burgtheaterintendant bleiben.

 

(Un)heimliche Klassizität: 

Man kann's nur so machen. 

Nur so!

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