Ein rotes Kostüm für die einzige Sehende. © Moritz Schell.

 

 

Die Stadt der Blinden. José Saramago. Bühnenfassung von Thomas Jonigk.
Schauspiel.
Stephanie Mohr, Miriam Busch. Theater in der Josefstadt, Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 27. Oktober 2022.

 

> Vor hundert Jahren, am 16. November 1922, kam José Saramago, der portugiesische Nobelpreisträger für Literatur, zur Welt. Aber das Datum ist nicht der einzige Grund, "Die Stadt der Blinden" heute zu bringen. Der Roman aus dem Jahr 1995 nimmt die Erfahrung vorweg, welche die Welt nach dem Aufkommen von Corona durchlebte: exponentielle Ansteckungsraten, Quarantäne, Zusammenbruch der Systeme, Entsolidarisierung der Gesellschaft wegen einer rätselhaften, untherapierbaren Krankheit. Das Theater in der Josefstadt ruft diese Erinnerungen wieder wach, weiss aber auf die Frage: "Und jetzt, wie weiter?" ebenso wenig Antwort wie unsereins. <

 

Was Elfriede Jelinek und Frank Castorf drüben im Akademie­theater in "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" in dreieinhalb Stunden abhandeln, umreisst das Programmheft des Theaters in der Josefstadt zur "Stadt der Blinden" in wenigen Zeilen. Es zitiert ein Fernseh-Interview des ORF mit José Saramago, zwei Jahre nach Erscheinen des Romans "Die Stadt der Blinden", und ein Jahr vor Verleihung des Nobelpreises für Literatur. 1997 führte der Portugiese aus:

 

Wir Menschen sind blind. Wir haben zwar Augen, die alles sehen, zum Beispiel Bäume oder den Himmel, alles, aber wir verhalten uns so, dass man aus der menschlichen Vernunft – einzig und allein menschliche Wesen besitzen Vernunft – schliessen muss, dass der Instinkt der Tiere dem Schutz des Lebens besser dient. Ausserdem stellt sich die Frage, ob man wirklich gewalttätig sein muss, um überleben zu können. Die Grausamkeit ist eine menschliche Erfindung. Es stimmt, dass wir grausam gegenüber Tieren sind. Aber das Schlimmste ist die Grausamkeit gegen unseresgleichen. Ist es nicht verrückt oder blind, dass wir in den Beziehungen unter uns Menschen grausam sind?

 

Auf die Frage nach unserer grausamen Verblendung führen am Josefstädter Theater Thomas Jonigks geradlinige Bühnenfassung und Stephanie Mohrs geradlinige Inszenierung. In der Gerad­linigkeit liegt aber auch das Problem. Nachdem die Eingangs­szene packend das Aufkommen der ersten Erblindung etabliert hat (Programmheft: "Der erste Blinde: Roman Schmelzer"), folgt der Verlauf dem Schema "und dann, und dann, und dann ..." (Programmheft: "Frau des ersten Blinden: Martina Ebm. Zweiter Mann, Augenarzt: Ulrich Reinthaller. Zweite Frau, Ehefrau des Augenarzts: Sandra Cervik. Dritte Frau: Marlene Hauser. Dritter Mann: Raphael von Bargen. Vierte Frau: Alexandra Krismer. Vierter Mann: Alexander Absenger. Fünfter Mann: Julian Valerio Rehrl. Alter Mann: Peter Scholz.")

 

Der Verbreitung der Krankheit entsprechend, kommen immer neue Menschen ins Spiel. Angesichts der Grösse des Ereignisses (am Schluss sind alle blind), regrediert der Verlauf jedoch zu einer mehr zufällig als zwingend anmutenden Aneinanderreihung von Situationen, die mal dramatische, mal schreckliche, mal typische, mal rührende Züge aufweisen. Vieles lässt sich, im Unterschied zum Film ("Die Stadt der Blinden" wurde 2008 ins Kino gebracht), auf der Bühne nicht darstellen. Sie ist dann auf den "Botenbericht" angewiesen, also auf jene Erfindung des antiken Dramas, die es erlaubte, zeitlich und örtlich ferngelegene Ereignisse durch den Rapport herbeizuzitieren.

 

Aus diesem Grund wird es erzähltechnisch unumgänglich, wenigstens einer Person das Augenlicht zu lassen. Sie kann dann die andern – und die Zuschauer – über jene Fakten und Ereignisse ins Bild setzen, die man nicht sieht. Im konkreten Fall ist das die Ehefrau des Augenarzts. Ihr rotes Kostüm (Entwurf: Nini von Selzam) hebt sie aus der Menge heraus. Die Frage, ob und wann das Verhängnis auch die letzte Sehende erreicht, hält das Zuschauerinteresse über die Pause hinaus wach. Danach kommt die Handlung noch mit dem Hilfsmotor voran: "Und jetzt, wie geht es weiter?" Als auch der erschöpft ist, ruft der erste Blinde: "Ich kann wieder sehen! ", und seine Genesung überträgt sich auf den zweiten, dritten, vierten, fünften, und so ebenfalls auf die erste Frau und die dritte und die vierte und alle, alle weiteren ... und das Stück ist aus.

 

Der Faden, der den Abend zusammenhält, ist also dünn, wenn wir von der Parallele zu Corona absehen. Er folgt dem Schema: "Eines Tages ..." Nach diesem Schema entstand mit der "Stadt der Blinden" ein Roman nach Art der "Pest" von Albert Camus (Nobelpreis 1957) und des "Herrn der Fliegen" von William Golding (Nobelpreis 1983).

 

Stephanie Mohr hat den epidemiologischen Verlauf, der viel über den Menschen sagt, handwerklich sauber in Szene gesetzt. Ihr zur Hand gingen Miriam Busch mit einem klugem, wirkungs­starken Bühnenbild und Manfred Grohs mit hervorragendem Licht. Das Team realisierte, zusammen mit dem zuverlässigen Josef­städter Ensemble, den Wunsch, den der Bediener am Buffet beim Überreichen des Sektglases vor der Vorstellung aussprach: "Viel Vergnügen [an der Grausamkeit der Verhältnisse]!"

 

"Ist es nicht verrückt oder blind ... 

... dass wir in den Beziehungen ... 

... unter uns Menschen grausam sind?"

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