Zuerst wohlmeindend. © Benjamin Meignan.

 

 

La cantatrice chauve. / La leçon. Eugène Ionesco.

Schauspiel.

Théâtre de La Huchette, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 10. November 2022.

 

> Als vor 65 Jahren das Théâtre de La Huchette Eugène Ionescos erstes Stück, "La cantatrice chauve" wiederaufnahm, das bei der Uraufführung sieben Jahre zuvor keinen Erfolg gefunden hatte, konnte niemand wissen, dass es von da an ununterbrochen auf dem Spielplan bleiben würde, was einem Weltrekord gleichkommt. Seit 1957 spielt es die Truppe von 45 Schau­spielern täglich, kombiniert mit Ionescos zweitem Stück, "La leçon". An der 19'588. Vorstellung ist "Die kahle Sängerin" sehr gut besucht, "Die Unterrichtsstunde" eher schwach. Daran zeigt sich, dass der Publikumszuspruch nicht alles sagt. Denn künstlerisch bot das zweite Stück mit Jean-Marie Sirgue als Lehrer überragendes Schauspielertheater. <

 

Das Théâtre de La Huchette ist winzig. Es entspricht einem Kellertheater. Das Kassenfenster geht auf die Strasse, und auf der Strasse warten die Leute auch auf den Einlass. Der Saal hat rote, gepolsterte Sitze, sechs pro Reihe, und dann noch, rechts neben dem Gang, je einen Klappstuhl, auch gepolstert, auch rot. Insgesamt kann das Haus 85 Zuschauer aufnehmen. Sie blicken auf einen roten Vorhang, mehr lang als breit, der sich rasch und geräuschlos auf- und zuziehen lässt. Den Vorstel­lungs­beginn markiert, wie beim französischen Theater bis 1970 üblich, eine Reihe von Stockschlägen, die in die legendären "les trois coups" münden: Eins, zwei, drei, und jetzt geht's los.

 

Bei "La leçon" indes werden die Schläge bei geschlossenem Vorhang durch ein Hämmern aus dem Hintergrund fortgesetzt. Erst am Schluss, wenn der Lehrer die Schülerin erdolcht und die Leiche nach hinten gebracht hat, erkennt man, dass das Klopfen vom Verschliessen eines Sarges herstammte.

 

Vorher hat der Lehrer das arme Ding eine Stunde lang dran­genommen mit Fragen, die es auf "das allgemeine Doktorat" vorbereiten sollten: "Wieviel gibt 1 + 1?" oder: "Welche Zahl ist grösser: 4 oder 3?" Bei dieser Lektion trat zutage, dass das Zuleidewerken (wie die Berner sagen) gegenseitig war: Der Lehrer quälte die Schülerin mit seinem Wissen, die Schülerin den Lehrer mit ihrer Ignoranz.

 

Schauspieler Jean-Marie Sirgue bringt den Duktus des französischen Professors so souverän auf die Bühne, als hätte er zur Vorbereitung seiner Rolle semesterlang die Bänke der Ecole normale supérieure, der Sorbonne und des Collège de France gedrückt. Nun benimmt er sich zuerst unterwürfig höflich, dann wissensverliebt demonstrativ und schliesslich, angesichts sturer Unbelehrbarkeit, rechthaberisch-tyrannisch. Ionesco schrieb seine Farce in der Epoche vor der Inklusion. Damals wurden Lernschwierigkeiten noch mit dem Satz abgetan: "Dumm bleibt dumm. Da helfen keine Pillen."

 

Die gleichen zeitbedingten Züge zeigt auch "Die kahle Sängerin". Der Humor des Einakters beruht auf Verspottung: Verspottung von Britishness, Verspottung des bourgeoisen Ehelebens, Verspottung der Stupidität von Londoner Feuerwehroffizieren und, als Höhepunkt, Verspottung des Gedächtnisverlusts. Um 1950 starben eben die Leute noch, bevor sie Alzheimer entwickelten. Heute aber erscheint Ionescos Komik nicht mehr absurd, sondern prophetisch, und die flotte Behandlung der Erinnerungslücken löst nicht mehr Lachen, sondern Erschrecken aus.

 

So haben die beiden ersten Stücke Eugène Ionescos, die das Théâtre de La Huchette ununterbrochen spielt, im Lauf von 65 Jahren eine Anstössigkeit gewonnen, die niemand bei ihrer Schöpfung voraussehen konnte. Umwandlung der Rezeption ist das Schicksal der Klassiker. Es kann sich nur ereignen, wenn die Werke das Zeug zum Überdauern haben. Je weiter sie von der Gegenwart abliegen, desto länger muss die Liste der Triggerwarnungen werden. Am Ende werden die Klassiker zu einer Zumutung, die den Pauschalhinweis erfordert: "Achtung! Dieses Stück kann Sie durcheinanderbringen!" Wenn das eintritt, begegnet man Kunst. Andernfalls handelt es sich um schmeichlerische Selbstbestätigung, kostümiert als Event, Regietheater hin, Regietheater her.

 

Dann drohend. 

Auch in Old England ... 

... kann es knallen.

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