Schöne Bilder. © Suzanne Schwiertz.

 

 

Tancredi. Gioacchino Rossini.

Oper.

Benjamin Pionnier, Pierre-Emmanuel Rousseau. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 17. September 2022.

 

> Konsequent retro: Das Markenzeichen von Regisseur Pierre-Emmanuel Rousseau. Totenköpfe. Ritterrüstungen. Weihrauch­fässer. Staatsopernpathos im Stil der 1950er Jahre. Konventio­nelle Bilder. Gefällige Effekte. Symmetrische Aufstellung der Figuren. Daneben ein bemerkenswert zuverlässiges, engagiertes Orchester. Sänger, die für Biel/Solothurn das Maximum bringen. Wer vom sogenannten Regietheater genug hat, kann jetzt aufatmen: In "Tancredi" ist der tiefe, gesunde Schlaf wieder möglich. <

 

Man kann es natürlich so machen. Dann gibt es kein einziges Buh. Die kritischen Geister haben sich schon nach wenigen Minuten aus der Aufführung weggeträumt, und die unkritischen – in der Oper ohnehin die Mehrheit – sind vor lauter Nicken eingenickt.

 

Der Stil, dem sich Regisseur Pierre-Emmanuel Rousseau verschrieben hat, ist vierhundert Jahre alt. Gleich alt wie die Gattung der Oper. Immer geht es hier um das schöne Bild, den ästhetischen Effekt. Und wenn auch Wagner giftelte: "Effekt ist Wirkung ohne Ursache", so funktioniert der Effekt in der kulinarischen Oper halt gleichwohl. Um ihn zu geniessen, reist der Martin gerne auch nach Italien. Da weiss man noch, was man hat ...

 

Bei diesem Verständnis von Theater bedeutet Regieführen in erster Linie Aufstellen und Umgruppieren von Menschen auf der Bühne. Solisten, Choristen und Figuranten werden auf einen Platz hinbewegt, von dem aus sie auf den Dirigenten schauen können und zu singen beginnen, sobald er ihnen das Zeichen gibt.

 

Um das Warten und Stehen ungezwungener erscheinen zu lassen, versieht sie der Regisseur mit einem Requisit. Bei "Tancredi" finden die Chorsänger Halt an einem Kruzifix, die Solisten an einem Schwert und die Primadonna an einem Chrysanthemen­strauss, für dessen Grösse jedes Blumengeschäft dankend in die Knie geht.

 

Die Bedeutung der Handlung indes wird, wie man in der Theatersprache sagt, nicht gespielt, sondern bloss behauptet. Bei "Tancredi" lauten die Behauptungen: "Es ist Krieg." "Es ist Frieden." "Es ist wieder Krieg." "Aber jetzt ist der Feind besiegt, hurra!" Daneben wird eine Liebeshandlung behauptet: "Ich liebe dich." "Ich verachtet dich, denn du hast mich verraten." "Nein, ich war dir immer treu." "Ich sehe ein, dass ich mich getäuscht habe. Jetzt liebe ich dich wieder. Aber es ist zu spät. Ich sterbe."

 

Um die Behauptung von Situationen und Gefühlen zu unter­stützen, wird ein Arsenal malerischer, nun ja: Effekte ins Spiel gebracht: Bühnennebel, von der Seite beleuchtet; gruselige Totenkopfattrappen, aufgeschichtet wie die Kabishäupter am Altstadtmarkt; Ritterrüstungen (es ist schliesslich Krieg), daneben Mönchskutten und Nonnentrachten, makellos wie zur Anprobe (obwohl doch Krieg herrscht).

 

So bieten Bühnenbild, Kostüme und Inszenierung – alle aus der Hand von Pierre-Emmanuel Rousseau – eine Abfolge von Bildern, die die 70-Jährigen schon in ihrer Jugend gesehen haben, und die schon verstorbenen Eltern der 70-Jährigen ebenfalls in ihrer Jugend, und die Grosseltern und Urgrosseltern auch, und so fort und so fort.

 

Der Intendant des Weimarer Hoftheaters, Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe (er amtierte von 1791-1817), gewöhnte seine Darsteller ans Schachbrettmuster auf dem Bühnenboden, um malerische und symmetrische Gruppierungen hervorzurufen. Wie das damals im Grossherzogtum ausgesehen haben muss, kann man nun in Biel/Solothurn bei "Tancredi" studieren.

 

Die sängerfreundliche Praxis der vierhundertjährigen Opern­tradition erlaubt es den Kennern, sich auf die musikalischen Genüsse zu konzentrieren und sich, wie im kulinarischen Theater üblich, Arie für Arie, Nummer für Nummer auf der Zunge zergehen zu lassen.

 

Am Jurasüdfuss wird das Publikum in dieser Hinsicht nicht schlecht bedient. Das Orchester, geleitet von Altmeister Benjamin Pionnier, ist elastisch, wach und präzis. Doch wird es bei allem Engagement nie zu laut. Das ist Pionniers Markenzeichen. Ein Genuss.

 

Als sogenannte Sprungbrettbühne bietet Theater Orchester Biel Solothurn jungen Sängern die Möglichkeit, sich an Partien zu machen, für die sie an mittleren und grossen Häusern noch jahrelang anstehen müssten. So gesehen, gehörte es zum Geschäft, dass den beiden Hauptrollenträgerinnen an der Premiere noch die Erfahrung fehlte, die Belastung wegzustecken. Sie sangen oft zu tief und zu laut. Darum fanden sie bei ihren beiden Duetten nicht den perfekte Einklang – noch nicht. Das kann sich indes an den Folgevorstel­lungen einpegeln.

 

Das Piano von Candida Guida (Tancredi) ist makellos und bei Lara Lagni (Amenaide) darüber hinaus schön und innig. Remy Burnens bringt als Argirio alle Farben und gestaltet die Partie souverän durch. Jean-Philippe Mc Clish hat einen beachtlichen Bass, neigt aber (noch) zu einförmigem Dröhnen. Annina Haug dagegen realisiert in jeder Hinsicht untadelig die kleine Mezzo-Rolle der Vertrauten.

 

Die sängerzentrierte Kunstauffassung, auf die sich viele Musikliebhaber etwas einbilden, richtet aber, kritisch gesehen, den Fokus zu stark auf die artistische Leistung – als ginge es in der Oper um Portamenti, Glissandi, Legati, Rubati und dergleichen Dinge.

 

Schon 1811 aber brachte Heinrich von Kleist eine andere Auffassung von Kunst zu Gehör. Im "Brief eines Dichters an einen anderen" geisselte er das L'art pour l'art des konventionellen Kulturbetriebs:

 

Mein teurer Freund!

 

Jüngsthin, als ich Dich bei der Lektüre meiner Gedichte fand, verbreitetest Du Dich, mit ausserordentlicher Beredsamkeit, über die Form; rühmtest Du mir bald die Zweckmässigkeit des Metrums, bald den Rhythmus, bald den Reiz des Wohlklangs und bald die Reinheit und Richtigkeit des Ausdrucks und der Sprache überhaupt. Erlaube mir, Dir zu sagen, dass Dein Gemüt hier auf Vorzügen verweilt, die ihren grössten Wert dadurch bewiesen haben würden, dass Du sie gar nicht bemerkt hättest. Ich bemühe mich aus meinen besten Kräften, dem Ausdruck Klarheit, dem Versbau Bedeutung, dem Klang der Worte Anmut und Leben zu geben: aber bloss, damit diese Dinge gar nicht, vielmehr einzig und allein der Gedanke, den sie einschliessen, erscheine.

 

In der Darstellung des Gedankens, auf den es "einzig und allein" ankommt, blieben die Aufführungen seit Entstehung des Genres hinter dem zurück, was die Oper hätte leisten sollen. Erst das Regietheater brachte die Kunstform voran. Gemessen am Stand, der vor fünfzig Jahren erreicht wurde, ist der Retro-"Tancredi" ein schmerzhaf­ter Rückschritt.

 

Kulinarischer Stil. 

Schöne Bilder. 

 
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