Eindrückliche Bilder. © Florian Spring.

 

 

Die schwarze Spinne. Jeremias Gotthelf.

Schauspiel.

Armin Petras, Natascha von Steiger, Cinzia Fossati, Jörg Kleemann, Christian Aufderstroth. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. September 2022.

 

> Wer in die Adorno-Schule ging – oh, das macht uns nicht jünger! –, lernte, tief in der Mitte des letzten Jahrhunderts, dass das "affirmative Verhältnis" gefährlich sei für das "kritische Verständnis" von Kunst. Man müsse diese Haltung "unterlaufen" bzw. "brechen" durch "verfremdende Elemente". Mit dieser nicht mehr ganz neuen Auffassung geht das Berner Schauspiel nun auf eine Erzählung von vorgestern los und schlägt dem vergreisten, konservativen Bern seinen Gotthelf derart um die Ohren, dass sie das Sausen kriegen. Wie kann man nur, sagt das Theater, eine Handlung ernstnehmen, in der Grössen wie Gott und Teufel, Taufe, Sünde und Sakramente, Seele und ewiges Leben die Weltsicht bestimmen und wo "die drei heiligen Namen" von Gott Vater, Sohn und heiliger Geist Erlösung von ewiger Verdammnis bringen? Dieser Rückständigkeit muss man den Marsch blasen, sagt das Theater, und tut das aus vollen Rohren. Gut, schiesst es nur gegen die christliche Weltsicht. Hätte es das Visier auf Mohammed und den Koran gerichtet, hätte es die Vorstellungen schon vor Wochen absagen müssen. <

 

Die Aufführung verwendet Gotthelfs Vorlage - natürlich stark gerafft; es sind, über den Daumen gepeilt, 95 bis 97 Prozent der Erzählung weggefallen. Aber was zu hören ist (wenn auch nicht immer zu verstehen), glättet die Eigentümlich­keiten des Emmentaler Dichterpfarrers nicht weg. Die fehlenden Flexions-Endungen ("dem Bauer") werden als Helvetismen respektiert, und die altertümlichen Konjugationsformen beibe­halten ("schauete"). In Er-Form werden die Sätze von einzelnen Figuren vorgetragen ("Verfremdung") oder vom Ensemble im Chor rezitiert ("Brechung").

 

Aus der Rahmenhandlung wird die Einleitung übernommen (die Taufe). Weggelassen aber wird das Wiederauftauchen der Spinne ("Fast zweihundert Jahre waren verflossen, seit die Spinne im Loche gefangen sass ..."), Christens Heldentod ("was Christen an ihnen getan, vergassen die Leute nicht, und an seinen Kindern vergalten sie es") sowie der Schluss von Erzählung und Rahmenhandlung ("wo Gottesfurcht und gutes Gewissen wohnet, darf sich die Spinne nicht regen").

 

Als Ersatz trägt Schauspieler Claudius Körber auf Sächsisch einen absurden Weltuntergangs­momolog über steigende Fluten vor (dessen Bedeutung sich erst durch die Tagesaktua­lität erschliesst [siehe Ende der Besprechung]), und den Schluss der Aufführung bilden Sätze aus Dürrenmatts Prosaskizze "Weihnacht", wo sich beim Verzehr des Jesuskinds zeigt, dass der Heiligenschein nach altem Brot schmeckt und der Kopf nach altem Marzipan. Damit macht die Aufführung klar: Wir befinden uns im "Endspiel". Nagg: "Meine Praline!" Hamm: "Es gibt keine Pralinen mehr. Du wirst nie wieder eine Praline bekommen."

 

Zu Gotthelfs Erzählung verhält sich die Bühne offensichtlich "nicht affirmativ". Das Premierenpublikum fasst die Inszenie­rungs­weise darum als Aufforderung auf loszuprusten und auf jeden zweiten Satz mit kreischendem Gelächter zu reagieren. Und warum nicht? Wie beim "epischen Theater" üblich, tragen die Schauspieler ihre Sätze mit der Haltung vor: "Sorry, ich kann nichts dafür, aber so steht es im Text!"

 

Ihr Künstler, die ihr zu Lust und Kummer

Euch dem Urteil der Zuschauer ausliefert, lasst euch bewegen nun

Auszuliefern von nun an dem Urteil der Zuschauer auch

Die Welt, die ihr darstellt.

 

(Bertolt Brecht)

 

Gotthelfs Welt, solchermassen "ausgeliefert", trägt unheimliche, groteske und gruselige Züge, und der Lektürelisten­klassiker für die Deutsch-Matur aller Länder (weil kurz, spannend und billig [Reclam]) führt beim "Zuschauer des epischen Theaters" zum Fazit:

 

Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es [auf der Welt] nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muss aufhören.

 

(Bertolt Brecht)

 

Um dieses "Urteil" zu provozieren, führen die Bühnen Bern ihre grossen Mittel auf. Die Sound-Anlage, beschickt von Jörg Kleemann, ist hochpotent. Die Lichteinrichtung, ausgetüf­telt von Christian Aufderstroth, bezaubert das Auge dank intensivem Einsatz von Bühnennebel mit den raffiniertesten Effekten. Kostüme (Cinzia Fossati), Masken, Gebärden und Haltungen rufen eine Mischung von Ritterspektakel, Fasnachtsumzug und wilder Jagd hervor.

 

Zaghaft aufkommende Spannung wird "unterlaufen" durch eine rotierende Drehbühne (Natascha von Steiger), die zwar kaum Neues bringt, aber dafür den Rhythmus der Aufführung verlang­samt und das Publikum immer wieder abschweifen lässt zu sich selber.

 

So erklärt es sich, dass bei der szenischen Wiedergabe der Erzählung, die seit 1842 zum immateriellen Kulturerbe des Bernbiets gehört, die einen permanent den Kopf schütteln und die andern permanent lachen.

 

Regisseur Armin Petras aber kann sich nach diesem Übungsstück seinen Aufgaben als Co-Schauspieldirektor zuwenden, die er mit diesem Herbst am Staatstheater Cottbus bei Intendant Stefan Märki übernimmt.

 

Die Stadt wählt heute einen neuen Oberbürgermeister. Die Wahllokale haben noch bis 18 Uhr geöffnet. Die grössten Chancen auf den Posten hat der Vertreter der AfD, Lars Schieske. Wenn das eintritt, wird sich Armin Petras seine Wollkappe tief über die Ohren ziehen und das Unterlaufen zur Perfektion steigern müssen.

 

An dieser Situation gemessen, war seine "schwarze Spinne" in Bern noch nicht die Reifeprüfung. Erst der Kindergarten.

 

Von der Rahmenhandlung ... 

... über die Spinne ... 

... zur Katastrophe. 

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