Die Zierde des Stuttgarter Ensembles. © Martin Sigmund.

 

 

Die Walküre. Richard Wagner.

Bühnenfestspiel.

Cornelius Meister, Hotel Modern, Urs Schönebaum, Ulla von Brandenburg und Benoît Résillot. Staatsoper Stuttgart.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. Mai 2022.

 

> Die Rückkehr der Geschichte: 1982 liess Rolf Liebermann in Genf "Parsifal" nach dem Atomschlag spielen. In den Trümmern einer zerstörten Kathedrale traf sich eine kleine Schar versehrter Männer zum Dienst am Gral. Eine ähnliche Situation zeigt nun das Hotel Modern (so der Name des szenischen Generalunternehmers) in seiner Inszenierung der "Walküre" an der Stuttgarter Staatsoper. Der erste Akt spielt in winterlicher Ödnis und Endzeit. Hier gewinnt das Thema der Liebe utopische Züge. <

 

In Verbindung mit der Bühne "fahren" die ersten Takte "voll ein", wie der volkstümliche Ausdruck in der Schweiz für einen umwerfenden "Schuss" (in des Wortes Doppelbedeutung) lautet. Auf der Bühne zeigt das Bild eine gehetzte Maus, und die Partitur erklärt: "Ein kurzes Orchestervorspiel von heftiger, stürmischer Bewegung leitet ein." Das Staatsorchester Stuttgart realisiert die Vorgabe mit Genauigkeit, Schönheit und Energie, wie wenn es zusammen mit seinem GMD Cornelius Meister nie etwas anderes als Wagner gespielt hätte. Der Wechsel zum Siegmund-Motiv und seine Überblendung in Mitleid und Zärtlichkeit beim Auftritt Sieglindes erfolgen intelli­gent, organisch und elegant – und damit ist schon die musika­li­sche Handschrift charakterisiert, die den ganzen, beinahe sechsstündigen Opernabend prägt.

 

Auf dem selben Niveau, das sich im Wort "unübertrefflich" zusammenfassen lässt, bewegen sich die Sänger, die Zierde des Stuttgarter Ensembles. Dem Kenner genügt es, die Namen zu lesen: Simone Schneider als Sieglinde, Okka von der Damerau als Brünnhilde, Annika Schlicht als Fricka, Michael König als Siegmund, Brian Mulligan als Wotan und Goran Jurić als Hunding. Sie zeichnen sich aus durch Schönheit der Stimmen, Vielfalt der Farben und makellose Diktion.

 

Wahrgenommen werden die Sänger an der fünften Vorstellung durch Zuschauer, die beim Applaus mit fein abgestuftem Enthusiasmus den Traum von Hugues Gall realisieren. Als der Direktor der Pariser Nationaloper in Pension ging, besuchte ihn der bayerische Rundfunk für ein einstündiges Gespräch. Am Schluss wurde er gefragt, ob er in seiner Karriere noch einen Wunsch habe. "Ja", antwortete Gall. "Einmal erleben, dass das Publikum versteht, was ihm geboten wird." Ironie des Schicksals. Gall hätte in Württemberg wirken sollen ...

 

In Stuttgart werden die drei Akte der "Walküre" für die Neuproduktion von drei verschiedenen Regieteams realisiert. Das erste – Hotel Modern – leistet Überwältigendes. Die Bühnenseiten sind eingefasst von Modellandschaften, die, für sich genommen, auf einem Tisch Platz fänden. Zur Wirkung kommen sie durch Projektion auf den Hintergrundprospekt. Mit dieser Umsetzung wird der Mikrokosmos – einfangen von zwei Live-Kameras – zum Makrokosmos, das Dekor zur Wirklichkeit, das Spiel zu Ernst.

 

Im Sinn Wagners ragt das System der Entsprechungen von der Mythologie hinüber in Geschichte und Gegenwart; es schafft mithin Bezüge vom Einst und Dort ins Hier und Jetzt. In den Landschaften erkennen wir die zerstörte Ukraine wieder. In den Figuren aber, die am Draht bewegt werden, sehen wir Art Spiegelmans "Maus", also jenen beklemmenden Comic, der das Schicksal der Juden im Dritten Reich mit Mäusen nacherzählt. Dem Antisemiten Wagner wäre der Brocken im Hals stecken geblieben. Friedrich Schlegel dagegen hätte in den "Athenäums­fragmenten" von romantischer, das heisst: hinter­sinniger Ironie gesprochen.

 

Die grossen Gestalten der Oper – Siegmund, "von übermässiger Anstrengung erschöpft, auf der Flucht", und Sieglinde, "in heftigem Selbstvergessen" (Wagner) – sind nur arme, gejagte, kleine Mäuse. Demgemäss handelt die "Walküre", nach der Definition von Martin Opitz (1624), wie jede Tragödie "nur vom königlichem Willen / Totschlägen / Verzweifelungen / Kinder- und Vatermorden / Bränden / Blutschanden / Krieg und Aufruhr / klagen / heulen / seufzen und dergleichen."

 

Die Genialität des Konzepts von Hotel Modern liegt darin, dass sich die körperlich ungelenken Darsteller in der Inszenierung gar nicht zu bewegen brauchen. Es genügt, dass sie sich neben den Stamm der Esche in die Mitte stellen und singen. Die Verflechtung der Elemente zum Gesamtkunstwerk geschieht daraufhin von selbst: Da ist das Orchester im Graben mit je zwei Harfen in den Seitenlogen (also insgesamt sechs), da sind die Sänger auf der Bühne, da sind die Puppenspieler und Kameraleute an den Rändern, da sind die animierten Kleinwesen in der Projektion – und aus der Künstlichkeit des Arrangements wächst rein und gewaltig das Intendierte empor.

 

Die beiden folgenden Akte wirken daneben nur noch konventionell. Urs Schönebaum, Ulla von Brandenburg und Benoît Résillot verstehen es nicht, das Problem von Uninspiriertheit, Länge und Statik zu lösen, das jede Wagner-Oper stellt. Das Hotel Modern aber wirkt als Verheissung. Im Programmheft-Interview sagt es: "Die Arbeit an dem ersten Aufzug hat uns grosse Lust auf das Genre Oper gemacht, auf eine weitere Zusammenarbeit mit Sänger*innen, einem grossen Orchester und der grossen Bühne – wir sind bereit für ein ganzes Stück!"

 

Wer das erleben kann! Die Fahrt nach Stuttgart, oder wohin auch immer, wird sich gewiss lohnen.

 

Die Sänger brauchen ...

... nur zu stehen ... 

... und zu singen. 

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