Wohlgelaunt - und doch eher ausstrahlungsarm. © Annette Boutellier.

 

 

Das Ende von Schilda. Ariane von Graffenried und Martin Bieri.

Eine höhere Idiotie.

Annina Dullin-Witschi, Konstantina Dacheva. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. April 2022.

 

> Das Stück ruht auf zwei Strohhalmen. Und damit sind schon zwei anfechtbare Wörter gesetzt: Es handelt sich bei der "höheren Idiotie" (so die Gattungsbezeichnung des Autorenpaars Ariane von Graffenried und Martin Bieri) ja gar nicht um ein "Stück", sondern bloss um eine Mischung von naiver Erzählung und breitem Situationsgemälde. Also Langeweile. Trotzdem kann von "ruhen" keine Rede sein, denn Strohhalme geben keinen Halt. Den einen Strohhalm bildet das Bühnenbild von Konstantina Dacheva, den andern die zitathafte Evokation einzelner Episoden aus der spätmittelal­terlichen Schwanksammlung der Bürger von Schilda. Und nun sollten diese Strohalme tragen. Tun's aber nicht. "Fleisch am Knochen" wird da niemand finden, und schon gar nicht einen "lebendigen Organismus". Die kritische Reflexion schwankt zwischen den Begriffen "Totgeburt" und "Kopfgeburt". Ach, es ist schwer, das richtige Wort zu finden, wenn das Theater keine Substanz hat. <

 

Die Uraufführung der "höheren Idiotie" des Autorenpaars Ariane von Graffenried und Martin Bieri in der Schauspielsparte der Bühnen Bern wäre nicht möglich geworden, wenn nicht im Elsass, das eine alte Tradition bürgerlicher Narren- und Schwank­literatur aufzuweisen hat, 1597 "Das Lalebuch" erschienen wäre. Die Bedeutung des Titels erschliesst sich, wenn man ihn ins Berndeutsche übersetzt: "Ds Buech vo de Löle". Der Zeit entsprechend, war der Titel der ersten Ausgabe lang und umständlich: "Das Lalebuch, Wunderseltsame, abenteuerliche, unerhörte und bisher unbeschriebene Geschichten und Taten der Lalen zu Lalenburg". Eine Reihe von 45 Erzählungen schilderte das Leben und Treiben eines Gemeinwesens. Manche Geschichten waren altüberliefertes Gemeingut, wie etwa in Bern die Geschichten vom Dällebach Kari.

 

Eine zweite, sprachlich umgearbeitete und erweiterte Ausgabe des "Lalebuchs" erschien bereits ein Jahr später unter dem Titel "Die Schildbürger. Wunderseltsame, abenteuerliche, unerhörte und bisher unbeschriebene Geschichten und Taten der obgemeldten Schildbürger in Misnopotamia hinter Utopia gelegen". Der Schauplatz ist nach Schilda in Meissen verlegt.

 

Hedwig Heger hat den Inhalt des Buchs zusammengefasst:

 

Die ersten sechs Kapitel dienen der Exposition und erzählen von der Herkunft der Lalen. Sie stammen von einem griechischen Weisen ab. Ihrer Weisheit wegen werden sie von Königen und Fürsten gerufen und konsultiert. Infolge der häufigen Abwesenheit der Männer leidet das Hauswesen. Die Frauen verlangen ihre Männer zurück. Um von ferneren Berufungen in das Ausland sicher zu sein, beschliessen die Lalenburger, ihre Weisheit zu verbergen. Darauf folgen die närrischen Streiche der Lalen bis zum Untergang ihrer Ansiedlung: Der Bau des dreieckigen Rathauses mit dem Vergessen der Fenster und des Ofens in der Ratsstube, die Aussaat des Salzes, der Besuch des Kaisers und die Geschehnisse dabei (mit einer Serie anstössiger Rätsel), das Gehaben des Schultheissen und seiner Frau, das Vertauschen der Häuser, die Heirat des Schultheissensohnes, die Anfertigung der langen Wurst, die man nicht kochen kann, das Verbergen der Glocken im See, die Geschichte mit dem Krebs, der Ankauf des Maushundes und zuletzt in Kapitel 45 der Entschluss, aus der Stadt wegzuziehen. Ganz Lalenburg brennt nieder, weil die Lalen eine ihnen gefährlich erscheinende Katze verfolgen. Sie fliehen mit Weib und Kind in den Wald und zerstreuen sich später über die ganze Erde.

 

Sprachlich ist das Buch für Unstudierte schwer zu lesen:

 

Darumb musten sie die Lalen die Arbeit selberst verrichten / welchs jnen gnug gethan. Also machten sie sich hinter die grossen Bawhölzer / vnd mit auß der massen hartschwerer Arbeit / offt in die Hände gespeytzet / glaube mir nit ohne viel schnaufen vnd Athem fassen / brachten sie zuletzt dieselbigen den Berg hinauff / vnd jenseit wider hinab: alle / biß an eins / so nach jrem verstand das letzte gewesen.

 

Dasselbe fesseln sie zugleich den andern auch an / vnd bringens mit heben / lupffen / schieben / treyben / stossen / trollen / rollen / wallen / schleiffen / ketschen / tragen / legen / schalten / schürgen / rutschen / ziehen / kehren / stellen / winden vnd wenden / fürsich / hindersich / obsich / nidsich / nebensich linck vnd recht / in die breite / in die lenge vnd vber zwerch / den Berg hinauff / vnd auff der andern seiten halber hinab.

 

Wenn auch der Originaltext nur noch in der Stube von Gelehrten steht, behielten die Schildbürger Wohnrecht in der Volksliteratur. Eine hübsche, selber schon klassische Fassung hat Ottfried Preussler (Der Räuber Hotzenplotz, Die kleine Hexe) unter dem Titel "Bei uns in Schilda" 1958 herausgebracht, mit charaktervollen Illustrationen von Erich Hölle. Das Buch wurde übersetzt in Baskisch, Chinesisch, Dänisch, Englisch, Galicisch, Italienisch, Japanisch, Katalanisch, Koreanisch, Kroatisch, Litauisch, Serbisch, Slowakisch, Spanisch und Ungarisch. (Französisch fehlt!)

 

Die närrischen Streiche, die durch Jeremias Punktum, dem Stadtschreiber von Schilda, überliefert werden, ereignen sich nun in der Fassung von Ariane von Graffenried und Martin Bieri vor einer Gestalt, die, wie die anderen Figuren, nur durch ein Merkmal bezeichnet wird: der Dichterin.

 

Sie kommt von aussen; will Schilda kennenlernen. Das ergibt für längere Strecken erzählende und erklärende Prosa, nicht aber dramatische. Das Autorenpaar sah offensichtlich keine elegantere Möglichkeit, der Dichterin (und dem Publikum) beizubringen, wer die anderen sind: Schweinebauer, Wirtin, Hellseherin, Lebküchlerin, Faxenmacher, Troll, Baumeister, Kaiser.

 

Annina Dullin-Witschis Inszenierung begleitet die verschie­denen Episoden (wie den Bau des fensterlosen Rathauses, das Versenken der Glocke, den Stadtbrand) durch andeutende Illustration des Erzählten. Das Verfahren ist zwar nett, ergibt aber einen länglichen und etwas faden Abend, zumal in Kombination mit einem ausstrahlungsarmen Ensemble. Die Schauspieler sind nicht so weit gekommen, das Typische ihres Typs zu erfassen, wie das beispielsweise Maria Happel, Barbara Petritsch, Michael Maertens und Nikolaus Ofczarek am Burgtheater virtuos zu realisieren verstehen. So bleibt es in Bern rundum beim Gutgemeinten.

 

Diese Einstellung bringt auch das Premierenpublikum mit. Bis zur Hälfte der Aufführung gibt es bei jedem zweiten Satz durch Laute des Vergnügens an, dass es "ganz drin ist" und sich toll amüsiert. Es genügt ihm, dass David Berger aufsteht und sagt: "Ich stehe", dass es darauf mit fröhlichem Kichern antwortet. Wenn sich Berger danach wieder niedersetzt und feststellt: "Ich sitze", wird auch dieser Satz mit Kichern quittiert. Dann steht Berger wieder auf: "Ich stehe". Und das Publikum zeigt, dass es diese Pointe ebenfalls begriffen hat.

 

Wer nicht zur Koterie gehört, findet's natürlich zum Davonlaufen. So erging es schon 1765 dem zwanzigjährigen Berner Patrizier Karl Viktor von Bonstetten. Eingeladen zu einer Party in Rolle ("Die Gesellschaft war sehr zahlreich und sehr gut"), fand er den Anlass "unausstehlich": "Sich von morgens bis abends zu spreizen, zu lachen, ohne zu wissen weshalb, dem Mund Sätze entfahren zu lassen, die das Herz missbilligt, war mir unerträglich." – Lieber Karl Viktor, tröste dich! Du bist nicht der einzige!

 

Ausstrahlung hat ...

... das Bühnenbild ... 

... von Konstantina Dacheva. 

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