Ein gefährlicher Abend. © Suzanne Schwiertz.

 

 

Les Liaisons dangereuses. Antonio Vivaldi/Vanni Moretto.

Opern-Pasticcio.

Facundo Agudin, Serge van Veggel, Herbert Janse. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 1. April 2022.

 

> Zeitreise in die Ambassadorenstadt am Fuss des Weissen­steins, Sitz des französischen Gesandten zur Zeit der alten Eidgenossenschaft. Von hier aus wurden die Kantonsvertreter mit hohen Summen dazu bestochen, die Politik von Versailles gegen die Länder Deutschlands, die Kronen Österreichs und Preussens zu unterstützen. Von hier aus wurden die jungen katholischen Männer der Innerschweiz als Söldner nach Frankreich vermit­telt. Hier gab es glanzvolle Feste und Theaterauffüh­rungen. Und hier, in der schönsten Barockstadt der Schweiz mit ihrem 1729 eingerichteten Theaterhaus, entwickeln die Klänge Vivaldis und die Briefe der "gefährlichen Liebschaften" einen derartigen Sog, dass die kalte Immoralität des 18. Jahrhunderts das Publikum zuerst bezirzt, dann fesselt und am Ende überwältigt. Korrekterweise jedoch müsste der morbide Trip der "Liaisons dangereuses" mit einem Warnhinwes versehen sein: "Kann süchtig machen." <

 

1770 reist der 25-jährige Berner Patrizier Karl Viktor von Bonstetten durch Frankreich. Als erstes bemerkt er Not und Armut. Den Landstrassen entlang sterben Menschen vor Hunger. Der englische Dichter Thomas Gray zitiert aus einem von Bonstettens Briefen: "The people in several provinces are starving to death on the highways." Über das Reich Ludwigs XV. vermerkt Bonstetten auch:

 

Man sieht nur Elend und Ausgelassenheit. Ich fühlte mich dazu gedrängt, diese Menschen in Lumpen zu fragen, wer ihnen ihre Kleider und Häuser genommen habe; welche Pest die Nation verwüstet habe. Aber sie haben das Glück, nicht zu denken und zu spielen, bis zum Moment, wo man sie absticht.

 

Am 18. August ist der junge Berner zum Geburtstag von Madame de la Corée in St-Ouen eingeladen. Am 19. schreibt er dem Vater:

 

Der Gatte liess im Garten ein Boskett schmücken. Lampions formten Girlanden von einem Baum zum andern. Unter einem Baldachin aus Blumen assen wir zu Nacht. Die Strasse, die zum Boskett führt, war illuminiert. Die Musik war am Eingang versteckt und begann zu spielen, als Madame erschien. Ganz Pontoise und St-Ouen, von den Kindern bis zu den Alten, hatte sich versammelt, um uns essen zu sehen. Wir verteilten ihnen das Dessert, es gab Kirschen und Apfelmus, das sie löffelweise bekamen. Hunger und Naschsucht öffneten Tausende von Mündern, um die Pralinen, die Konfitüren und die Kompotte in Empfang zu nehmen.

 

Anfang Oktober ist Karl Viktor von Bonstetten in La Roche-Guyon bei der Herzogin de la Roche eingeladen. Den Eltern berichtet er:

 

Man kann nirgends angenehmer leben als hier. Im Schloss findet man alle erdenklichen Vergnügungen: Karossen, gesattelte Pferde, Hunde, Manege, Federspiel, Billard, Konzert- und Theatersaal, Musik, Tanz. Die Herzoginnen verlangen von ihren Gästen nur, dass sie sich amüsieren.

 

Diese untergegangene Welt bringen nun "Les Liaisons dangereuses" in einer aufsehenerregenden Koproduktion mit der niederländischen OPERA2DAY auf die Bretter von Theater Orchester Biel Solothurn.

 

Vor dem schönen, raffinierten und rasant wandlungsfähigen Bühnenbild von Herbert Janse entwickelt sich der Briefroman von Choderlos de Laclos als Opern-Pasticcio mit einem Vorspiel und 7 Akten. Konzept und Szenario stammen vom Regisseur Serge van Veggel, das Libretto schrieb Stefano Simone Pintor und die Partitur – basierend auf einer "Longlist" von 490 Arien, Ensembles und Instrumentalstücken (= 28 Stunden Musik) – komponierte Vanni Moretto. Miteinander lösten die Künstler die Forderung ein, die Egon Friedell an den kritischen Blick richtet:

 

Er hat zu zeigen, dass die Alten es vielleicht ganz gut gekonnt haben, dass wir es aber jedenfalls anders machen müssen, und dass aus der Verpflichtung, es besser zu können, auch notwendig die Fähigkeit dazu sich eines Tages organisch entwickeln wird.

 

Und so klingt nun in Biel-Solothurn Vivaldi besser und anders als Vivaldi in Venedig. Er konnte noch nicht wissen, dass man nach seinem Tod anfangen würde, die musikalischen Ideen ineinanderfliessen zu lassen; dass die dissonanten Reibungen, die er für den "Winter" erst einmal illustrativ einsetzte, die Grundlage für die Musiksprache des 20. Jahrhunderts bilden würden.

 

Doch jetzt verlängert Vanni Moretto das musikalische Material aus der "Liaisons"-Epoche in Dimensionen, die das 18. Jahrhundert noch nicht kennen konnte. Das macht die Aufführung des Pasticcios für heutige Ohren gleich aufregend wie Hans Zehnders Orchestrierung von Schuberts "Winterreise". Zumal das Sinfonie Orchester Biel Solothurn, geleitet von Facundo Agudin, die Partitur mit so viel Engagement, Präzision und Schönheit realisiert, dass die orchestrale Seite allein schon den Warnhinweis verdiente: "Kann süchtig machen".

 

Aber die Handlung steht hinter der Musik nicht zurück. Wie gescheit Bühnenbildner und Regisseur die szenischen Zeichen einsetzen, wird im 7. und letzten Akt augenfällig. Diese Inszenierungsweise nennt man: "Denken in grossen Bögen". Und dadurch tritt auch die Stimmigkeit der Besetzung zutage. Die Vorbehalte, die Candida Guida als Marquise de Merteuil stimmlich und darstellerisch hervorrief, lösen sich am Ende auf. Die Frau konnte nicht anders. So, wie sie sang und war, stimmte sie. Die Marquise stellte sich selbst dar, diesen bestimmten, ihr von der Natur vorgezeichneten Bauplan, den sie erfüllte, "während die Majorität der Menschen nicht einmal das tut, sondern fortwährend ihren Ehrgeiz darein setzt, etwas andres zu sein, als sie ist" (um nochmals Egon Friedell zu zitieren).

 

Wenn der Komponist Vanni Moretto im Programmheft schreibt, er sehe Valmont "als die einzige aufrichtige Figur", entspricht Ingeborg Bröcheler seinen Intentionen vollkommen. Auf ihrer Höhe bewegen sich Inès Berlet und Marion Grange, die Darstellerinnen der zum Opfer auserkorenen, gutartigen Frauen. Neben sie stellt sich aber noch ein Sänger der Extraklasse: der Sopranist Mayaan Licht. Seine kristallklare, bewegliche Stimme mit aufregenden Belcanto-Qualitäten kann süchtig machen.

 

Ein gefährlicher Abend.

 

Nur ein Schritt ... 

... zum Elend. 

 
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