Fantasio. Alfred de Musset.

Komödie.

Emmanuel Desnault. La Compagnie de l'Eternel Eté im Théâtre Lucernaire, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. März 2022. 

 

> So ganz egal ist es nicht, ob das Theater etwas erzählen will oder bloss Impressionen hervorrufen. Es spielt auch eine Rolle, ob sich die Handlung gescheit entwickelt; ob das Erzählte Stich hält. Diese Trivalität bestätigt sich im "Lucernaire", dem Pariser Theater- und Kinohaus für die freie Szene. – Dabei verhält es sich bei der Frage: "Erzählen oder nicht?" gleich wie bei der Grundantinomie allen Schauspielens: "Es gibt Schauspieler, die spielen immer sich selbst", erklärte Theaterdirektor Alex Freihart. "Und es gibt welche, die verwandeln sich von Rolle zu Rolle. Bei beiden gibt es gute und schlechte. " <

 

Weil im "Lucernaire" stets Verschiedenes gleichzeitig läuft, trifft die Pressefrau die Wahl: "Ich reserviere dir eine Karte für 'Fantasio' von Musset. Samstagabend, 20:00 Uhr." Alfred de Musset besitzt in der Literaturgeschichte keinen hohen Rang. Schon die Zeitgenossen haben ihn belächelt: Das Talent sei nicht so gross wie der Ehrgeiz. Am besten sei noch "Man spielt nicht mit der Liebe" (On ne badine pas avec l'amour), aber auch dieses Stück sei nicht vollkommen. Der Besuch einer Aufführung hat das Urteil bestätigt: Es genügt, "On ne badine pas" einmal im Leben gesehen zu haben.

 

Aber wie steht es mit "Fantasio"? Am Eingang des "Lucernaire" befinden sich zwei Schalter, angeschrieben mit "Cinéma" und "Théâtre". Die Kassiererin will wissen: "Welche Vorstellung?" Und beim Überreichen der Karte sagt sie: "Beginn 19:45 Uhr." "Da habe ich Glück gehabt. Man sagte mir 20:00 Uhr." "Nein, 19:45 Uhr." Jetzt fällt der Blick auf die Karte: "Aber da steht doch 20:00 Uhr!" "Ja, aber Sie müssen eine Viertelstunde früher hier sein, damit man Sie platzieren kann!"

 

Nun, das Haus hat eine gut besuchte Bar und ein ebenfalls gut besuchtes Restaurant. Quersubventionierung. Eine Formel, nach der jedes dritte Pariser Theater lebt. Der Kaffee kostet bei allen gleich viel: Zwei Euro. Ist die Tasse ausgetrunken, kann man für die Vorstellung nur um die Ecke biegen.

 

Um 19:45 Uhr reicht die Schlange schon vom ersten Stock hinunter zum Eingangsfoyer. In den kommenden zehn Minuten wird sie ums Doppelte anwachsen, ohne dass sich vorne etwas bewegt. Kein guter Einstieg, zumal – wie immer bei der alternativen Szene – "freie Platzwahl" deklariert ist. Der Darwinismus der Linken. Ein Stress für die Sensiblen.

 

Zwei durchsetzungsfähige junge Frauen ("les placeuses") sorgen dafür, dass alle Besucher sitzen können: "Bitte rutschen Sie zusammen! Pro Polster zwei Personen, bitte!" Es wird eng. Wo Luft ist, heisst es: "Können Sie dort noch aufschliessen?" Für die letzten acht Besucher wird die erste Reihe freigegeben, von der es hiess, sie dürfe nicht belegt werden. "Und jetzt schalten Sie bitte das Handy ganz aus. Ein Notausgang befindet sich hier hinter der Bühne und dort, wo Sie hereingekommen sind. Und jetzt: Bon spectacle!"

 

Die Handlung spielt offensichtlich in Venedig. Die Bühne, eingerichtet vom Regisseur Emmanuel Besnault, zeigt einen Bootssteg und Gondel-Anbindepfähle. Fünf Schauspieler treten auf, mit Stabmasken vor dem Gesicht. Das Spiel ist animiert, gross und laut, denn es herrscht eine Art Karneval. Ein ahistorischer Märchenkönig (Venedig war in Wirklichkeit stets Republik) will seine Tochter an den Herzog von Mantua verschachern. (Er spielt auch eine Rolle in Victor Hugos "Le roi s'amuse", der Vorlage für Verdis "Rigoletto")

 

Ein junger Mann, bedroht vom Schuldturm, flüchtet ins Kostüm des soeben verstorbenen Hofnarren. Um Verwechslung zu vermeiden, heisst er Fantasio, nicht Rigoletto. Dafür will der Herzog von Mantua eine Verwechslungskomödie aufführen. Er tauscht die fürstliche Rolle mit der seines Adjutanten, um das Wesen der Verlobten unauffällig studieren zu können. Den Einfall haben schon andere gehabt. (Am berühmtesten: "Das Spiel von Liebe und Zufall" von Marivaux.) So stiehlt der ehemalige Schauspieler Alfred de Musset seinen Plot von allen Seiten zusammen. Mit "Fantasio" aber geht es derart schwachbrüstig weiter, dass das Stück keinen Anlass gibt, das Urteil der Literaturgeschichte über den Autor in Revision zu ziehen.

 

Schauspieler und Regisseur bemühen sich nach Kräften, die Aufführung zu retten. Sie zeigen zwei schöne nackte männliche Oberkörper. Sie kürzen den Text um geschätzte neunzig Prozent auf eine Spieldauer von 1 Stunde 20 Minuten, vierzig Prozent Live-Musik inbegriffen: Nick Cave, David Bowie, PJ Harvey, The Doors. Der Einsatz der Darsteller erobert die Sympathie des Publikums. Dazu trägt auch der Wiedererkennungseffekt der Ohrwürmer bei.

 

So kommt Alfred de Mussets Flop halbwegs ungeschoren über die Bretter. Am Schluss erntet die Truppe energischen Applaus. Doch ein junger Mann (vielleicht der Regisseur?), der sich neben die Schauspieler gestellt hat, bittet um Ruhe: "Es tut mir leid, dass ich Ihren Beifall stoppen muss. Aber hier beginnt in zwei Minuten eine neue Vorstellung. Wir müssen deshalb gleich anfangen, die Bühne abzubauen, und bitten um Entschuldigung, dass wir Ihnen jetzt den Rücken zukehren."

 

In der Tat: Die Zuschauer von "Fantasio" begegnen beim Verlassen des Saals einer langen Schlange von Menschen, die bis zum Eingangsfoyer hinunterreicht. Es ist 21:45 Uhr. Der Laden brummt. Bar und Restaurant des "Lucernaire" sind vollbesetzt.

 

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