Starkes Figurenspiel. © Janosch Abel.

 

 

Pelléas et Mélisande. Claude Debussy.

Oper.

Sebastian Schwab, Elmar Goerden, Silvia Merlo, Ulf Stengl, Christian Aufderstroth Lydia Kirchleithner. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 21. März 2022.

 

> Ein mutiger Abend. Verdient Respekt. Denn "Pelléas et Mélisande" wird die Massen nicht an den Kornhausplatz ziehen. Dafür ist das Werk zu sperrig. "Die langweiligste Oper des Repertoires", spottete vorgestern ein Schauspielintendant. "Den ganzen Abend passiert nichts." Das Regiekonzept macht die Aufführung doppelt mutig. Elmar Goerden formuliert seine Interpretation mit Sensibilität, Intelligenz und Eigenständigkeit. Verlangt mithin vom Publikum aktives Mitdenken. Sinn für Zeichen und Gesten. Obwohl nichts so gezeigt wird, wie es ein naives Theaterverständnis erwartet, verläuft die Inszenierung vollkommen stimmig. Aber im Inneren, nicht im Äusseren. Dafür braucht es mehr als Augen. Das in Bern zu verlangen ist mutig, ja für viele eine Zumutung. – Wenn die musikalische Interpretation auf der Höhe der szenischen gewesen wäre, könnte man von einem Ereignis reden. Jetzt ist die Aufführung bloss noch sehr gut. Also bemerkenswert. Auch nicht nichts. <

 

Diesmal steht nicht der Chefdirigent im Graben. Man hört es bald. Das Berner Sinfonieorchester ist wieder zu laut. Bei Nicholas Carter hatte es diese jahrzehntealte Unart abgelegt. Jetzt deckt es die Sängerin mit der schwächsten Stimme zu (Orsolya Nyakas als Yniold). Und die andern müssen sich anstrengen, um sich zu behaupten. Das führt nicht nur, wie beim sonst durchwegs imponierenden, menschlich engagierten Robin Adams als Golaud, zu dauerndem Fortegesang, sondern auch zu musikalischer Isolation. An der Premiere singt nicht ein Ensemble, sondern ein Konglomerat von Einzelkämpfern gegen das Orchester. Für sich genommen sind sie fraglos beachtlich (auch schauspielerisch): Der runde Mezzosopran von Claude Eichenberger als Geneviève, der schwarze Bass von Matheus França als Arkel, der warme Tenor von Michal Prószyński als Pelléas und der leuchtende Mezzosopran von Evgena Asanova als Mélisande. Aber sie stehen musikalisch verloren im Raum. Und das geht nicht zulasten der Regie, sondern des Dirigats.

 

Sebastian Schwab fehlen gut zwanzig Jahre Metier, um "Pelléas" zu machen. Als Ernest Ansermet seine erste Gesamteinspielung 1952 bei Decca herausbrachte, war er 69. André Cluytens 1957 bei EMI 52. Désiré-Emile Inghelbrecht 1963 bei Decca 83. Pierre Boulez 1990 bei CBS 45. Sebastian Schwab 2022 bei den Bühnen Bern 29. Der junge Chef konzentriert sich auf die dramatischen Schärfen. Die Zuspitzungen. Was ihm noch fehlt, sind tiefes Verständnis des Werks, Sensibilität und Geschmeidigkeit der Interpretation (das richtige Wort – aber es existiert nicht auf Deutsch – wäre "souplesse") und musikalischer Feinsinn ("subtilité"). Die Dosierung des Orchesterklangs, die Transparenz des Spiels zwischen den Gruppen – das kommt mit den Jahren. Sebastian Schwab bringt es noch nicht.

 

So könnte man von einer anständigen, aber nicht überwältigen­den Leistung reden, wäre da nicht die szenische Gesamtkonzep­tion des Teams Elmar Goerden (Regie), Lydia Kirchleithner (Kostüme), Silvia Merlo, Ulf Stengl und Christian Aufderstroth (Bühne und Lichtgestaltung). Hinter ihrer Arbeit steht eine lange, lebendige Erfahrung mit komplexen Werken. Sie ermöglicht ihnen eine gescheite, zeitgemässe "Pelléas"-Umsetzung, die den Schnickschnack der spätromantischen Operntradition hinter sich lässt zugunsten des Überzeitlichen, das die generative Transformationsgrammatik "Tiefenstruk­tur" nennt.

 

Drei Elemente fallen auf: Das Mittel der Drehbühne zunächst. Es verbindet, wie die Musik, die verschiedenen Szenen und Spielstätten durch einen kontinuierlichen Fluss. So kommt die Simultanität der Handlungen vors Auge - und damit das Geflecht, welches Pelléas und Mélisande umschlingt und seine Liebe tragisch, weil verboten, macht. Das Konglomerat der Schlossbewohner wird zur ständigen optischen Präsenz und zur Repräsentation des Über-Ichs (die Spielfläche ruht auf Stelzen). Damit realisiert die Bühne das Konzept, das Äussere ins Innere zu bringen.

 

In seiner Darstellung von Schopenhauers Philosophie schreibt Egon Friedell: "Unser Leib ist uns zweimal gegeben: einmal von aussen, als Vorstellung, einmal von innen, als Wille." Elmar Goerdens Inszenierung untersucht das Innere, den Willen. Darum lässt er das Äusserliche weg.

 

Egon Friedell:

 

Im Bereich des Willens herrschen die düsteren Mächte des Schmerzens und des Todes, der Enttäuschung und der Langeweile, während die Freuden und Güter blosse Illusionen sind. Zuletzt muss der Tod siegen, denn wir sind ihm schon durch die Geburt anheimgefallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt. Wir setzen indessen unser Leben mit vielem Anteil und grosser Sorgfalt fort, so lange als möglich, wie man eine Seifenblase so lange und so gross als möglich aufbläst, wiewohl mit der festen Gewissheit, dass sie platzen wird. Das Leben der allermeisten Menschen ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hinweg zum Tode, unter Begleitung einer Reihe trivialer Gedanken; sie gleichen Uhrwerken, welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen, warum. Die Wilden fressen einander und die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt. Auf der Bühne spielt einer den Fürsten oder General, ein anderer den Diener oder Soldaten; aber die Unterschiede sind bloss im Äusseren vorhanden, im Innern steckt bei allen dasselbe: ein armer Komödiant mit seiner Plage und Not. Mitten in diesem Trauerspiel der Leere und des Leidens erblicken wir nur eine Gattung von Glücklichen: die Liebenden.

 

Wenn die Liebenden in Goerdens Inszenierung zusammenfinden, wechselt auf der Bühne das Licht. Es wird weiss und rein, wie das, was Pelléas und Mélisande miteinander erleben. Diese Momente ergeben sich in der Mitte und am Ende des Dramas. In der Mitte finden die Liebenden die Worte in der Poesie für das, was sie bewegt. Sie sitzen nebeneinander und tragen Verse in das gleiche schwarze Wachstuchheft mit rotem Rand. Wir sehen zwar die beiden schreiben, doch der Inhalt des Ausge­sprochenen ist für uns unhörbar. Ein starkes Symbol für die Heiligkeit der wahren Beziehung, wo das Vorspielen aufhört. Friedell: "Unsere Freudenäusserungen sind für gewöhnlich nur das Aushängeschild, die Andeutung, die Hieroglyphe der Freude, sie haben bloss den Zweck, andere glauben zu machen, hier sei die Freude eingekehrt." Bei Pelléas und Mélisande ist die Freude innig und echt.

 

Am Schluss erscheint die Freude wieder, und wieder als jenseitige Vision, und wieder in reinem Weiss. Pelléas ist tot. Mélisande ist tot. Doch nun brechen die beiden auf: Sie mit dem Koffer, den sie in Szene 1 von Akt 1 in der Hand trug; er mit seinem geliebten Plattenspieler. Vorn am Rand nehmen sie Platz. Das düstere Schloss liegt hinter ihnen. Pelléas setzt die Nadel auf die schwarze Scheibe, die er vorher noch sorglich abgewischt hat, und nun erklingt für die beiden eine himmlische, für uns aber unhörbare Musik. Die Szene ist wie ein Zitat aus dem über tausendjährigen altjapanischen Liebesroman vom Prinzen Genji, verfasst von der Hofdame Murasaki:

 

Die Grossmutter des jungen Prinzen versank weiter in untröstlichen Schmerz. Inständig bat sie Buddha, doch dorthin hinübergeboren zu werden, wo ihre Tochter weilte, und es war wohl eine Erfüllung dieser Sehnsucht, als sie schliesslich starb.

 

Das zweite Element, durch das sich die Produktion auszeichnet, liegt im überlegten Einsatz der Requisiten. Dadurch, dass die Inszenierung sie zum Sprechen bringt, schaffen sie Zusammen­hänge. Pelléas' Bücher kennzeichnen ihn als Bruder Hamlets, Mélisande als Schwester Ophelias – beide viel zu gut für die Welt der Pragmatiker, der Macht- und Tatmenschen, die sie (und uns) umgeben. Konsequent gezeichnet werden demzufolge der König Arkel in seinem grauen Hausmantel als absolutistischer Despot, die Königin Geneviève mit ihrer blonden Hitchcock-Frisur als gelangweilte First Lady, das Kind Yniold mit seiner Spielzeugkiste als heimtückischer Zwerg sowie der Held und Jäger Golaud mit seinem Schwert, seinem Dolch und seiner virilen Postur als unglücklicher Macho.

 

Das dritte Element liegt in den grossen Bögen, aus denen das Werk besteht und die der Regisseur herausarbeitet, indem er den Lauf des Dramas, das den drei Hauptfiguren begegnet, kenntlich macht durch Veränderungen an ihrem Spiel und Charakter. Ganz überwältigend setzt Evgena Asanova als Mélisande das Konzept um. Ihr Spiel ist in jedem Moment inhaltlich gefüllt, verständlich und lesbar, auch da, wo sie zurückweicht und ihr Inneres für sich behält. Die Spur ihrer Zeit und ihres Leids im Palast brennt sich lange über die Aufführung hinaus als Menetekel in der Erinnerung ein, und wir nehmen mit:

 

Der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

 

Matthäus 25, 40.

 

Die Simultanität der Handlungen ... 

... unterstreicht das tragische Geflecht ... 

... der Unglücklichen, getrieben vom Verhängnis.

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