Inszeniert, als ob die Rollen nicht Typen bezeichneten, sondern Menschen. © Brigitte Enguérand.

 

 

Le Misanthrope. Molière.

Komödie.

Clément Hervieu-Léger, Eric Ruf, Bertrand Couderc. Comédie-Française, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. März 2022.

 

> Um den 400. Geburtstag Molières zu begehen, sind für die Comédie-Française keine besonderen Anstrengungen nötig. Sie braucht bloss den Fauteuil Argans, in dem Molière als eingebildeter Kranker während der vierten Vorstellung dem tödlichen Blutsturz zum Opfer gefallen ist, vom Umgang des ersten Stocks hinunterzutragen ins Eingangsfoyer, damit jeder Besucher erkennt, dass die Verbindung der "Troupe de Molière" mit dem Gründer nie abgerissen ist. Die Comédie-Française hat die Stücke des Meisters im ständigen Repertoire, einzelne realisiert durch klassische, das heisst musterhafte Insze­nierungen. In seiner gegenwärtigen Gestalt kam "Le malade imaginaire" 2001 auf die Bühne, eingerichtet vom Schweizer Regisseur Claude Stratz, damals Direktor der Comédie de Genève. 2014 folgte "Der Menschenfeind" unter Leitung des Ensemblemitglieds Clément Hervieu-Léger, und auch diese Inszenierung blieb bis heute "sans une ride". In ihrem neunten Aufführungsjahr ist das Haus bis unters Dach gefüllt mit Menschen, die innerlich jede Zeile mitsprechen können und jede Nuance würdigen. Daran zeigt sich die einzigartige Stellung der Comédie-Française. <

 

Bis heute hat die Comédie-Française den "Menschenfeind" 2850 mal gespielt. Das Stück wurde einmal so, einmal so gewendet. Das Wissen (und Können) vieler Schauspielergenerationen prägt das Konzept, die Komödie "jetzt so" zu machen. Das heisst: mit Ernst; als ob die Rollen nicht Typen bezeichneten, sondern Menschen. Und das Resultat? Bis weit über die Pause hinaus eine fesselnde, tragikomische Labilität von mehrschichtigen Personen, bei denen feine Bewegungen des Spiels die Seelenregungen verraten; und am Schluss nachtschwarze Trauer über das nicht mehr einholbare, vertane Leben.

 

Der Bogen entspannt sich in einem Bühnenbild, das die Handschrift von Eric Ruf trägt, dem Direktor der Truppe, selber begnadeter Schauspieler und Regisseur. Die Handlung spielt in der Visconti-Zeit. Célimènes Palast ist herunter­gekommen. Verschiedene Umbauten haben die alte Substanz verunstaltet. Um die Funktionsfähigkeit des Hauses zu gewähr­leisten, wurden improvisierte Reparaturen vorgenommen: auf Putz angebrachte Stromleitungen verbinden Schalter mit Glühbirnen und Neonröhren. Abwasserrohre führen aus den oberen Stockwerken zur Kanalisation hinunter, und eine Konstruktion von Metallverstrebungen sichert die Wände vor dem Einsturz. Man sieht: der Anspruch aufs grossartige Leben ist nicht mehr mit Substanz gedeckt. Die Menschen spielen nur noch ihre Prätention vor. Eine traurige Lage.

 

Symbolisch dafür ist der Tisch fürs Festessen: Um ihn zu bilden, legt die Dienerschaft die Bretter einer Baustelle nebeneinander. Doch die Damastdecke ist zu kurz, um die rohe Fläche zu kaschieren. Die Gäste indes verhalten sich, als sähen sie die Divergenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht. Der einzige, der das höfliche Wegblicken nicht in Ordnung findet, ist Alceste. Sein Wahrheitsempfinden macht ihn zum Menschenfeind.

 

Um die Oberflächlichkeit der Komödienhandlung aufzubrechen, bricht Regisseur Clément Hervieu-Léger die Verssprache auf. So werden die Wörter zu Indikatoren innerer Vorgänge. Und starke, emotional gefüllte Pausen geben ihnen Gewicht und Farbe. In Verbindung mit Gängen, Körperstellungen, Gesten, Blicken und Lauten werden die Menschen lesbar. Dank dem überragenden szenisch-darstellerisch-akustischen Gesamtkonzept (Bertrand Coudercs Lichtgestaltung verdiente eine eigene Analyse!) hält die aktuelle Inszenierung des "Menschenfeinds" vor Lessing stand: "Der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt, wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen ent­springt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste."

 

Am Schluss nachtschwarze Trauer. 

 
 
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