Die verhängnisvolle Begegnung. © Fabienne Rappeneau.

 

 

La Machine de Turing. Benoît Solès.

Schauspiel.

Tristan Petitgirard. Théâtre du Palais-Royal, Paris.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 29. März 2022.

 

> Das Hoch Peter, das vielerorts den trockensten und wärmsten Monat März seit Beginn der Messungen brachte, war in Paris – zusammen mit den Verbrennungsmotoren – die Ursache derart alarmierender Luftwerte, dass die Bevölkerung am Wochenende mit Durchsagen in der Metro vor jeder sportlichen Betätigung im Freien gewarnt werden musste. Doch das hinderte niemanden am Genuss von Sonne und Hitze. Am Sonntagnachmittag waren die Gassen still und leer, die Terrassen und Parks dagegen gerammelt voll von Paaren, Touristen, Familien. Doch wer in der Rue de Montpensier die Tür zum Théâtre du Palais-Royal aufstiess, kam in eine andere Welt: Das Kulturpublikum, Menschen eigener Art, wartete still in roten Plüschsesseln auf den Beginn der 612. Vorstellung der "Machine de Turing", einem Erfolgsstück, das durch seine Technik, seinen Inhalt und seine Menschlichkeit gleichermassen beeindruckt. <

 

Reden wir zuerst von der Technik: Benoît Solès hat ein spannendes neunzigminütiges Theaterstück geschaffen, das mit ganzen zwei Schauspielern auskommt. Dafür wurde er 2019 mit dem Molière ausgezeichnet (dem französischen Theater-Oscar). Der eine Schauspieler (bei der Uraufführung der Autor Benoît Solès selbst) verkörpert das mathematische Genie Alan Turing, Mathematikprofessor der Universität Manchester und, wie wir heute wissen, Vater des Computers. Er konstruierte eine Maschine, der es gelang, die chiffrierten Botschaften der Wehrmacht zu knacken und damit den Weltkrieg um zwei Jahre zu verkürzen.

 

Dem Autor und Schauspieler Benoît Solès seinerseits gelingt es, sich in den übermenschlich begabten, aber queren Sonderling Alan Turing hineinzufinden und sein Wesen, seine Art und sein Denken für das normalbegabte Publikum verständ­lich zu machen. Dabei vermeidet die Darstellung nicht die Brüskerie aller Aspergermenschen, die sie gleichzeitig widerlich und rätselhaft macht.

 

In einem Brief, der sich mit E.T.A. Hoffmann beschäftigte, definierte Theodor Fontane:

 

Es ist das eigentümliche Vorrecht des Genies, eine Menge dummes Zeug zu sprechen und zu tun, was der anständige, gebildete Mensch nie gesprochen und getan haben würde, aber diese Schulmeister-Superiorität nützt dem letzern nichts, er wird mit all seiner Kritik, seinem Fleiss, seiner Respektabilität und selbst seinem Talent vergessen, während das Genie fortlebt und von kommenden Generationen selbst seine Quatschereien belacht, bewundert oder wenigstens entschuldigt sieht. – Wir haben das Vorrecht, verständiger, kenntnisreicher, anständiger zu sein; aber wir müssen teuer dafür bezahlen. In andrem Sinne auch wieder nicht. "Genie" definiere ich dahin: gestörtes Gleichgewicht der Kräfte; Dahse ist ein echtes Genie, d. h. ein Wunder und ein Schafskopf zugleich. Diese Herrschaft einer bestimmten Kraft auf Kosten andrer Kräfte macht das normale Genie.

 

Die Deregulierung der Kräfte, die das Genie für das Komplizierte tauglich und für das simpel Alltägliche untauglich macht, stellen Benoît Solès und Matyas Simon (Zweitbesetzung) so ergreifend dar, dass Solès neben dem Autoren-Molière auch den Schauspieler-Molière bekam und das Théâtre du Palais Royal darüberhinaus den Molière für die beste Produktion. Doch damit nicht genug: Ein vierter Molière ging an den Regisseur Tristan Petitgirard.

 

Der Preissegen hat mit der Menschlichkeit des Stücks zu tun: Alan Turing ist homosexuell. (Als Cambridge-Absolvent der 1930er Jahre nennt er sich nicht "gay" oder "schwul".) Er muss seine Eigenart verstecken. Denn in England ist sie strafbar. Wenn Alan dem Trieb nachgibt, droht ihm Gefängnis oder Hormontherapie. 50'000 Menschen erliegen der Strenge des Gesetzes von 1865, darunter Oscar Wilde. Unter diesen Bedingungen ist Turing, Fan von Walt Disney's "Schneewitt­chen"-Film, gleich in vier Glassärgen einge­schlossen: 1. Der naiven Kindlichkeit, 2. der Unverständ­lichkeit seiner Gedanken­welt, 3. der Geheimhaltung der Verteidigungsaufgabe und 4. der damals kriminellen sexuellen Veranlagung.

 

Das seelische Unglück, das auch ein gesellschaftliches ist, kommt auf der Bühne zum Vorschein in der Begegnung mit drei Kontrastfiguren: 1. einem biederen Polizeisergeanten der Quartierwache, verheiratet, Vater einer herzigen Tochter, 2. einem 25-jährigen kleinkriminellen Gelegenheitsstricher und 3. einem Schachmeister, Turings Geheimdienstvorgesetzten. Alle drei werden vom selben Schauspieler verkörpert. Das Publikum merkt das erst, wenn sich zum Schlussapplaus bloss zwei Männer verbeugen; so perfekt greifen Dramen- und Schauspieltechnik ineinander.

 

Die Beteiligung aber, die das Stück mit unerbittlicher mathematischer Strenge wachruft, ergibt sich dadurch, dass die Ungerechtigkeit der Gesellschafts- und Zeitumstände im Lauf der Handlung immer deutlicher zutagetritt. Je mehr wir von Alan Turing wissen, desto mehr wächst er uns ans Herz. Und über die Aufführung hinaus bleiben wir mit ihm verbunden dank seinen letzten Sätzen: "Immer, wenn ihr auf dem Bildschirm den Cursor blinken seht, denkt daran, dass ich euch zuwinke." Mit dieser Volte trägt "La Machine de Turing" nicht nur zur Aufklärung des Geistes bei, sondern auch zur Gewahrwerdung des Herzens.

 

Ein Polizeiposten. 

Ein Rätsel. 

Eine Maschine. 

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