Immer etwas in der Hand. © Suzanne Schwiertz.

 

 

I Capuleti e i Montecchi. Vincenzo Bellini.

Oper.

Franco Trinca, Yves Lenoir, Bruno de Lavenère. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 6. November 2021.

 

> Die letzte Szene reisst alles heraus: Romeo hat Gift genommen. Jetzt stirbt er. Giulietta sucht ihn zurückzurufen. Vergebens. – Für die letzte Nummer schreibt Vincenzo Bellini die ergreifendsten, echtesten, innigsten Linien. Die Stimmen des Liebespaars drücken Trauer aus, Verzweiflung, am Ende Ermattung. Die Schönheit aber kommt aus der Hingabe, mit der sich zwei Seelen nebeneinander verströmen. Im Moment des Zuendegehens wird die über lange Strecken problematische, weil mätzchenreiche Aufführung unversehens schlicht, nobel und anrührend. – Und da ist eine Romeo-Darstellerin, für die es sich lohnt, das Werk auf den Spielplan zu setzen: Josy Santos. Sie war vom ersten Auftritt an gut. Ein Lichtblick im dunklen Nachtstück, das zeigt, wohin die unversöhnliche Gegnerschaft zweier Clans führt, lange vor Erfindung des Fernsehens. Geändert hat nur der musikalische Stil. <

 

"Die Primadonna hat die überaus schwierige Rolle so ausgezeichnet gehalten, dass sie zur Stütze der ganzen Oper wurde; der Tenor ist schwach, ohne zu missfallen; der Bass ist eine Nudel. Der Chor ist gut, das Orchester mittelmässig." Dieses Urteil fällte Vincenzo Bellini nach der Uraufführung seiner Oper "I Capuleti e i Montecchi" vom 11. März 1830 an der Fenice von Venedig. Es fasst auch die Premiere vom 5. November 2021 in Biel zusammen. In beiden Fällen also: Kein durchgehendes Entzücken. Und: Die Regie ist keine Silbe wert.

 

Doch nun der Reihe nach. Die Primadonna von Biel heisst Josy Santos. Sie behauptet sich souverän im Gewusel. Ihr Auftritt als Romeo ist selbstbewusst, männlich – und doch zart. Das entspricht der Rolle des Liebenden, aber auch der Rolle des Überlegenen, der für Menschlichkeit, Ausgleich, gegenseitigen Respekt, Ende der Gewalt plädiert. Angesichts der festgefahrenen Fronten, der ideologischen Verblendung, der verbissenen Machtgier und der triumphierenden Idiotie, die das Weltgeschehen unserer Zeit dem Abgrund zutreiben, erscheint die Friedensbotschaft, welche die Primadonna in ihrem ersten Auftritt vorträgt, utopisch wie von einem anderen Stern. Und so singt sie auch. Ihr Zeitmass ist nicht starr, sondern flexibel. Bellini selbst schreibt ihr die Beschleunigungen und Verlangsamungen in die Partitur. Auch das Anschwellen und Abschwellen der Töne. Dadurch wird der Gesang der Primadonna beseelt. Josy Santos macht das mit ihrem reichen Mezzosopran fassbar. So wird sie "zur Stütze der ganzen Oper".

 

Der "schwache Tenor" (an der Premiere Gustavo Quaresma, alternierend mit Miloš Bulajić) setzt sich in Biel mit seiner hellen Stimme gut gegen das Orchester durch, überstrahlt auch die Chor- und Ensembleszenen, wird mithin seiner Aufgabe, Glanz und Schmelz in den Abend zu bringen, gerecht, kann aber ein befremdendes nasales Timbre nicht abstreifen, so dass am Schluss das Urteil wie beim Sänger der Uraufführung in die Negation der Negation hinausläuft: Er hat nicht missfallen.

 

Der Bass ist Daniel Reumiller. Ein verdienter Sänger; keine "Nudel". Aber gegenüber den anderen fällt er stimmlich ab. Wohl dem Alter geschuldet. Anderseits hat seine lange Bühnenerfahrung nicht dazu geführt, dass er jetzt ein scharf umrissenes Porträt eines starrsinnigen, machtverliebten Clanchefs zu liefern vermöchte (wo doch die Tagesschau täglich Vorbilder anbietet: aus der Türkei, aus Russland, aus Nordkorea, aus dem Iran etc. pp.). Also doch eher eine teigige Rollengestaltung.

 

Die Seconda Donna, von Bellini mit keinem Wort erwähnt, versieht in Biel Aoife Gibney. Sie hat anfänglich eine Tendenz, zu tief zu singen, doch verschmilzt ihr Sopran gut mit Josy Santos, vor allem im "duetto finale": "Ah! Mio Romeo! non mi lasciare ancor ... Attendimi ... Ei muore ... oh, Dio!" Beim Wort "Dio" erreicht die Melodie ein hohes As, während in Moll ein Orchesterausbruch das Ende mit Fortissimoklängen und Paukenwirbeln besiegelt. Wie es der Komponist wollte, hat die letzte Szene alles herausgerissen.

 

Doch die "Capuleti" entstanden zu einem unglücklichen Zeitpunkt der italienischen Operngeschichte. Durch einen übermütig abgeschlossen Kontrakt war der Komponist gezwungen, das Werk innert sechs Wochen zu schreiben. Also griff er zur Schablone – und sogar über weite Teile noch zu den Noten der durchgefallenen Oper "Zaira". Doch im neuen Kontext kamen die früher geschrieben Töne an: "Zaira, in Parma ausgepfiffen, wurde durch die 'Capuleti' gerächt", stellte Bellini zufrieden fest.

 

"Der Chor ist gut." Das Urteil von 1830 über den Chor der Fenice gilt auch fürs Biel des Jahres 2021. Eine Riesenarbeit für den Chorleiter Valentin Vassilev, die Laien, die am Jurasüdfuss den Theaterchor bilden, in den Stunden ihrer Freizeit für eine symbolische Anerkennung von Aufführung zu Aufführung auf professionellem Niveau zu halten. Aber die Liebhaber bringen auch etwas mit: Einsatzfreude und die Erfahrungen eines ganzen Berufs- und Familienlebens. Die erlebte Vergangenheit zeichnet sich in den Gesichtern ab und gibt dem Spiel Ausstrahlung und Ernst.

 

Dass das "Orchester mittelmässig" ist, tritt schon in den ersten Takten in Erscheinung. Es klingt ruppig und erinnert an die historische Aufführungspraxis. Doch je länger es spielt, drängt sich der Charakter des Missmuts nach vorn. Gewiss sind die Stellen für einen Profi nicht interessant oder anforderungsreich, sondern entsprechen der damaligen Routine. Aber es gibt Dirigenten, die es verstehen, aus Stroh Gold zu spinnen. Franco Trinca, dem 1. Kapellmeister und stellver­tretenden Operndirektor von Theater Orchester Biel Solothurn, gelingt das am Premierenabend nicht. Wo die Partitur uninspiriert ist, ist es die musikalische Wiedergabe auch.

 

Und nun die Regie. Bellini verliert über sie kein Wort. Aber das ist auch begründet. Denn zu seiner Zeit gab es sie schlicht und einfach noch gar nicht. Die Sänger traten an die Rampe und lieferten ihre Töne ab. Mehr verlangte niemand von ihnen: Nicht das Publikum, nicht die Theaterdirektion, nicht der Urheber des Werks – und auch nicht die Kritik. Denn die hatte sich in Italien um 1830 noch nicht herausgebildet.

 

Fürs Zuschauerauge genügte eine Abfolge von Bildern und Kostümen (welch letztere die Sänger selber anfertigen liessen und mitbrachten). Erster Akt: Ein Prunksaal. Dann ein Zimmer. Beide "Dekors" gehörten zum Fundus. Sie liessen sich verwenden bei den "Capuleti", aber auch bei "Rigoletto" und vielem anderem mehr. Im Depot hatte jedes Theater auch eine Kulisse, die je nachdem als Gruft, Keller oder Verlies dienen konnte. Sie findet sich in Offenbachs "La Périchole", in Gounods "Faust", in Beethovens "Fidelio" – und eben in den "Capuleti".

 

In unserer Gegenwart verzichten nun Regisseur Yves Lenoir und Szenograph Bruno de Lavenère auf die konventionellen Elemente und setzen auf ein halb abstraktes, halb andeutendes Bühnenbild. Da liegt auch nicht das Problem. Das Problem liegt in der altbackenen Statik der Nummernoper. Während gesungen wird, läuft nichts. Aus diesem Grund inszenierte der grosse Robert Carsen am Grand Théâtre de Genève und später an der Opéra National de Paris die "Capuleti" als halbszenische Aufführung. Die Sänger standen im Kostüm an der Rampe und sangen nach vorn. Nichts lenkte von ihren Stimmen ab, und das war auch gar nicht nötig bei einer Anne Sophie von Otter und einer Vasselina Kasarova in der Rolle von Romeo.

 

In Biel verschmäht jedoch das Regieteam diesen Ansatz und bringt den ganzen Abend lang Bewegung von Beinen, Füssen und Händen ins Spiel. So wird hier gegangen, gesessen, gelegen, gekauert. Die Hände der Sänger sind andauernd mit einem Requisit beschäftigt – einer Semmel, einem Pappbecher, einem Whiskyglas, einem Milchglas, einer, nein: vielen Zigaretten, einer Pillenschachtel, einer Giftflasche, einer E-Zigarre, einem Dolch und mehreren, nein: vielen Pistolen, mal da, mal dorthin gerichtet, und in der Hand von Pater Lorenzo gar auf den Clanvater, der damit, zu den letzten Takten, überraschend und textwidrig noch exekutiert wird wie in der aktuellen Berner Inszenierung von "Don Carlos" das gesamte männliche Personal. Vielleicht steckt hinter dem Geballer und Gefuchtel eine Idee im Sinne von Machtdenunziation, Überdruck, Unbehagen (körpersprach­licher Fachausdruck: Übersprungs­handlung). Indes: "Ideen sind wie Läuse im Pelz. Die hat jeder." Was der Dramaturg Urs Bircher 1985 monierte, ist heute noch nicht überholt. Das machen "I Capuleti e i Montecchi" deutlich.

 

Der Schluss bringt ...

... in das Geschehen ...

... echte Rührung. 

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