Italien: Höhepunkt der Lebensfreude. © Sebastian Hoppe.

 

 

Leonce und Lena. Joanna Praml und Dorle Trachernach nach Georg Büchner.

Schauspiel.

Joanna Praml. Staatsschauspiel Dresden.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. November 2021.

 

> Es hängt an einer Nuance bei der Titelgebung. Hiesse der Abend nicht "Leonce und Lena" wie das Stück von Büchner, sondern "Annäherung an Leonce und Lena", wäre die Sache getroffen. Immerhin liefert das Programmheft die Präzisierung: "nach Georg Büchner in einer Fassung von Joanna Praml und Dorle Trachternach". Die Bezeichnung "eine Fassung" zeigt an, dass die Komödie zum Ausgangspunkt genommen wurde, die Handlung unter neuen Umständen spielen zu lassen: Nicht mehr im Absolutismus der deutschen Kleinstaaterei, sondern im Sachsen unserer Zeit, wo jeder Schüler mit den andern über Zoom kommuniziert; nicht mehr im Zwang der Hof- und Religionsetikette, sondern im Zimmerarrest des Corona-Lockdowns. Doch auch wenn das Gewand durch die Zeitumstände neu zugeschnitten wurde, die Körper der Akteure haben immer noch das Lena- und Leonce-Alter, und die neue Fassung trifft den Kern der Situation mit überwältigender Glaubwürdigkeit. <

 

Im Spiel des jungen Ensembles erhalten die vier Themen von Büchners Komödie auf aktuelle Weise Leben und Anschaulichkeit. Da ist zunächst einmal das "taedium vitae": der Lebensüber­druss, die Daseinsleere. Jeder sitzt in seinem Zimmer, abgeschnitten von den andern, abgeschnitten vom Leben. Draussen herrscht nicht mehr die Krone, sondern Corona. Und jetzt: Wie die Zeit verbringen? Woher einen Sinn nehmen? Die Antwort: Durchwursteln! Die Tage hinter sich bringen! Stunde um Stunde, Minute um Minute, gleich wie Leonce in Akt 1, Szene 1. Und schon erscheint hinter dem Lebensgefühl der heutigen jungen Menschen das Lebensgefühl, das die Komödie denunziert: Unerfülltheit, Nichtigkeit aller Dinge. Vanitas, vanitatum vanitas.

 

Die Spieler wissen, wovon sie sprechen. Ihnen wurde soeben, wie man sagt, ein Jahr gestohlen, und zwar just in jenem Alter, in dem man die erste Nacht durchtanzt, sich zum ersten Mal verliebt, den ersten Rausch nach Hause bringt. So fallen nun in Joanna Pramls Inszenierung Stück, Rollen und Darsteller in eins. Häufig ist nicht zu entscheiden, ob die jungen Menschen von der Situation sprechen, in der sie leben, oder von der Situation, die sie spielen, so genau passt alles zusammen. Darin liegt die Einmaligkeit der Aufführung.

 

Vor dem Hintergrund der Melancholie steigert sich die Flucht nach Italien (Büchners zweites Thema) zum Höhepunkt der Lebensfreude. Die jungen Menschen bringen hier ein, was nur sie können: Reinheit von Wille und Vorstellung. Sie schaffen in der Immanenz eine Welt der Seligkeit, mithin das Paradies auf Erden. Manch älterem Zuschauer im kleinen Haus 1 des Dresdner Schauspiels treibt das Wehmuts- und Freudentränen in die Augen.

 

Büchners drittes Thema, die Automaten, realisiert sich in diesem Kontext nicht mehr als mechanische, sondern digitale Erscheinung. In ihr erlebt unsere Zeit den gesteigerten Menschen. Doch Automat bedeutet auch Fremdbestimmung durch Programmierung, wo "ich selbst gar nichts von dem weiss, was ich rede, ja auch nicht einmal weiss, dass ich es nicht weiss, so dass es höchst wahrscheinlich ist, dass man mich nur so reden lässt, und es eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche sind, die alles sagen. Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern!" (Büchner).

 

Die jungen Menschen reflektieren die Uneigentlichkeit, indem sie im Chor darüber nachdenken, wie sie jetzt wieder zur Schule gehen werden, ihre Abschlüsse machen, Familien gründen, Kinder aufziehen ... und alles weiter wie bisher, wo es doch wie bisher nicht mehr weitergehen kann? "Wir sind die Hoffnungsgeneration. Wir sollen die Welt retten, die die Menschen vor uns zugrunde gerichtet haben. Was bürdet ihr uns auf?"

 

Und doch, es ist unerlässlich (viertes Thema). Auf der Bühne realisieren die Darsteller, dass es vorbei ist mit dem Spielen und dass sie, wie Leonce und Lena, die Staatsgeschäfte übernehmen müssen. Da liegt ihre Bestimmung, ob sie es wollen oder nicht. Hoffentlich werden sie, wie bei der Annäherung an Georg Büchners Komödie, wach und kritisch bleiben.

 

Alle haben ihr Profil und ihre Eigenart. Einzelne sind nicht nur rollendeckend, sondern unvergesslich. Wenn es einen Wermutstropfen gibt, so liegt er in der Unverständlichkeit mancher Passagen. Aber untadelige Sprechtechnik bringen heute nicht einmal mehr die Profis mit. George Bernard Shaw behauptete, man brauche zehn Jahre, um das Handwerk des Theaterspielens zu lernen. Indes, nach dieser Spanne werden die jungen Spieler im Leben stehen und nicht mehr auf den Brettern. Dort braucht es sie nämlich dringender als im Theater. Doch das Versprechen, das die Annäherung an "Leonce und Lena" darstellt, vermittelt Akteuren und Zuschauern für die kommenden Zeiten Mut, Hoffnung und Durchhaltewillen. Kann Theater mehr geben?

 

Die Automaten: 

"Ich weiss nicht ... 

... was ich rede." 

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