Mischung der Formate. © Sebastian Hoppe.

 

 

Die rechtschaffenen Mörder. Claudia Bauer, Uta Girod und Jörg Bochow nach dem Roman von Ingo Schulze.

Schauspiel.

Claudia Bauer, Andreas Auerbach, Peer Baierlein. Staatsschauspiel Dresden.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. November 2021.

 

> Der Untertitel "nach dem Roman von Ingo Schulze" zeigt an, dass in Claudia Bauers Inszenierung am Dresdner Schauspiel noch einiges zum literarischen Wort hinzukommt: Videofilm, selbstverständlich, teilweise abgemischt mit den Signalen gleich zweier Live-Kameras. Dazu "Soundscapes". "Gesangs–Kompositionen". Und Brechung der Narration: Der Darsteller eines Autors namens Schultze (man beachte das T!) sagt nicht "ich", sondern "er". (Schultze sagte. Schultze dachte.) Dazu, nicht zu vergessen, der Pimmel: der Schultzes, bzw. seines Darstellers (es ist derselbe). Dazu, aufgetürmt wie die Hochzeitstorte von Madame Bovary, die Mehrschichtigkeit der Handlungsstruktur. Berichtet wird vom Inhalt eines Romans, der nicht zustandekam, und von den Bedingungen, die zum Scheitern führten: also Reflexion der Reflexion. Aufeinandergetürmt die 1950er, 1980er, 1990er und die 2010er Jahre in Dresden, in Berlin und der DDR. "Anschliessend Diskussion." Nach der Vorstellung im Schauspielhaus bleiben dreissig Menschen zum Gespräch, "was echt super ist", konstatiert am nächsten Morgen Birgit Breuer von der Abteilung Presse- und Öffentlichkeits­arbeit. <

 

Ich ging an den Strand [schrieb Theodor Fontane seiner Frau aus der Sommerfrische in Norderney] und dämmerte so von Bank zu Bank. Als ich an der Hauptstelle war, wo viele Hunderte von Korbhütten stehn, in denen man die Strandluft geniesst, fühlte ich mich von hinten her gepackt. Professor Michael schleppte mich bis an seine Korbhütte, wo ich nun der Frau Professorin und ihrem 19-jährigen Sohne, einem jungen Studenten, der für Gegenwart und Magazin Kritiken schreibt, vorgestellt wurde. Die Frau Professorin begrüsste mich sehr herzlich, zeigte mir die neueste Nummer der Vossin und sagte: "Eben habe ich von Ihnen gelesen; sehen Sie, hier; es ist so spannend, man kennt ja alle Strassennamen."

 

Die Strandpromenade mit den drei Herrschaften dauerte wohl noch anderthalb Stunden, und die Gutmütigkeit und Freundlich­keit der Frau Professorin gefiel mir. Ich kam dadurch sozusagen auf meine Kosten. Aber das Urteil: "Es ist so spannend; man kennt ja fast alle Strassennamen", hat doch einen furchtbaren Eindruck auf mich gemacht.

 

Das ist nun also das gebildete Publikum, für das man schreibt, und der 19-jährige junge Sohn (der mir übrigens gefallen hat) geht nebenher und kritisiert Gustav Freytag, Adolf Glaser und natürlich auch mich in Gegenwart und Magazin, also in den vornehmsten und angesehensten Blättern, die Deutschland hat. Alles macht einen wahren Jammereindruck auf mich, und wenn ich nicht arbeiten müsste, würd ich es in einem gewissen Verzweiflungszustande, in dem ich mich befinde, doch wahrscheinlich aufgeben.

 

Was Fontane zur Verzweiflung brachte, war das "falsche Lesen".

 

Es liegt [wie Vladimir Nabokov darlegte] in der vergleichsweise schlichten Art, die ihre Zuflucht bei einfachen Gefühlen sucht und stark persönlich gefärbt ist: Eine in einem Buch beschriebene Situation wird lebhaft mitempfunden, weil sie uns an etwas erinnert, das uns oder jemandem, den wir kennen, widerfahren ist. Oder aber, ein Leser schätzt ein Buch hauptsächlich deshalb, weil es ein Land, eine Landschaft, eine Lebensweise heraufbeschwört, die er sehnsuchtsvoll als Teil seiner eigenen Vergangenheit erkennt. Oder aber, und das ist eigentlich das Schlimmste, was ein Leser tun kann, er identifiziert sich mit einer im Buch auftretenden Gestalt. Diese Art wenig entwickelter Vorstellungs­kraft halte ich bei einem Leser nicht für wünschenswert.

 

Die identifikatorische Betrachtungsform, die den Schrift­stellern Fontane und Nabokov "nicht wünschenswert" erschien, bedienen nun "Die rechtschaffenen Mörder nach dem Roman von Ingo Schulze" am Dresdner Schauspiel einen ganzen Abend lang. Wer indessen nicht aus dem Elbtal stammt und die DDR, die Wende- und Nachwende-Jahre nicht erlebt hat, kann mit den Anspielungen auf Orts- und Zeitumstände wenig anfangen. Sie bleiben ihm gleich unverständlich wie die Diktion einiger Ensemblemitglieder – mit expliziter Ausnahme der Haupt­rollenträger Moritz Kienemann (Schultze) und Torsten Ranft (Norbert Paulini), die beide gut sind, und stark obendrein. Das erkennt auch der Fremde. Rätselhaft jedoch ist ihm, warum sie anfangs im Frauenkostüm auftreten müssen. Soll damit zum Ausdruck kommen, dass im Arbeiter- und Bauernstaat das Schreiben und Lesen als unmännlich galt? Ach, wäre man doch zur Publikumsdiskussion geblieben, dann wüsste man's! Bestimmt hätte man dabei auch vernommen, warum anfangs die Figuren in Masken spielen. Hinweis auf den Zwang, in der DDR sein Inneres verbergen zu müssen?

 

Max Beerbohm, der Nachfolger Shaws als Kritiker an der "Saturday Review", stellte um 1900 fest:

 

Die Technik des Spielens liegt in der guten Beziehung zwischen Stimme, Gestik und Gesichtsausdruck. Wenn Sie nicht verstehen, worum es geht, können Sie kein Urteil über die Technik des Schauspielers abgeben. Sie schauen hin, und Sie sehen gewisse Vorgänge im Gesicht und in den Händen des Schauspielers, und Sie hören gewisse Veränderungen in seiner Stimme, aber ich bestreite, dass Sie wissen, ob es die richtigen Vorgänge, die richtigen Veränderungen sind. Sie müssen es auf blossen Glauben hin annehmen.

 

Dasselbe gilt nun, auf die ganze Inszenierung übertragen, für "Die rechtschaffenen Mörder".

 

Routiniert richtet Regisseurin Claudia Bauer mit der grossen Kelle an. Auftritte und Gebärden sind expressionistisch durchgestylt. Auf diese Weise balancieren Künstlichkeit und Theatralität den Identifikationsfaktor aus. Sie geben im Anna-Viebrock-Bühnenbild von Andreas Auerbach, begleitet von den Soundscapes und Gesangs–Kompositionen von Peer Baierlein, dem Spiel Grandezza und Glamour. Aber die Substanz? "Solange ein Buch nicht seine Aktualität eingebüsst hat, weiss niemand, ob es wichtig ist", stellte Nicolás Gómez Dávila fest. Da liegt der Unterschied zwischen Literatur, Film und Theater. Das Dresdener Schauspiel produziert für Menschen, die heute im Elbtal leben. Der "Ewigkeitszug" (Alfred Kerr) ist ihnen egal. Und auch das Urteil des Kritikers aus Bümpliz und der Welt. Die Einladung zum Berliner Theatertreffen ist darum immer noch möglich (oder vielleicht gerade deshalb).

 

Sind die Literaten schwul? 

Oder bloss einfach crazy? 

 
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