Meisterliches Zusammenspiel der Komponenten Musik, Videoanimation und Handlung. © Klara Beck.

 

 

The Snow Queen. Hans Abrahamsen.

Oper.

Robert Houssart, James Bonas, Grégoire Pont. Opéra national du Rhin, Strassburg.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. Oktober 2021.

 

> Im Oktober 2019 kam "Die Schneekönigin" am königlichen Opernhaus Kopenhagen auf dänisch zur Uraufführung. Drei Monate später, im Dezember 2019, brachte sie die bayerische Staatsoper in englischer Übersetzung heraus. 2020 ernannten sie die fünfzig internationalen Kritiker der Zeitschrift "Opernwelt" zur Uraufführung des Jahres. Und nun, im September/Oktober 2021, kommt sie an der Strassburger Rheinoper in einer derart überwältigenden Inszenierung zur französischen Erstaufführung, dass man meinen möchte, der Komponist habe sie eigens für l'Opéra national du Rhin geschrieben. <

 

Die Qualität der Aufführung liegt in der Reinheit ihrer Komponenten. Auf der Bühne sitzt das Orchestre phil­harmonique de Strasbourg in voller Besetzung mit 87 Musikern. Es wird geleitet vom Uraufführungs­dirigenten Robert Houssart. Ein Gazevorhang trennt das Orchester von der Vorderbühne, die, weil der Orchestergraben abgedeckt ist, weit in den Saal hineinragt. Man sieht hinter der Gaze die erleuchteten Pulte, man sieht, wie der Dirigent das Zeichen gibt, und dann beginnen sich in der Stille einzelne Töne niederzusetzen wie Schneeflocken auf ein schwarzes Schieferdach. Das Klang­geschehen steigert sich zum Gestöber, wächst aus zum Wirbel, wird am Ende zum Schloss: "Die Wände des Schlosses waren aus stiebendem Schnee, und Fenster und Türen aus schneidenden Winden; es waren über hundert Säle, je nachdem der Schnee stob; der grösste erstreckte sich viele Meilen weit, alle beleuchtet von dem starken Nordlicht, und sie waren so gross, so leer, so eisig kalt und so glitzernd." (Andersen)

 

Komponist Hans Abrahamsen evoziert die Welt von Hans Christian Andersens "Märchen in sieben Geschichten" suggestiv und nachvollziehbar. Zum Entzücken der Analytiker finden sich in der Partitur Spiegelungen und Assonanzen, Symmetrien und Taktsprünge, das ganze gelehrte Arsenal einer vielhundert­jährigen Musikgeschichte, und die Kenner fühlen sich erinnert an György Ligeti, Johann Sebastian Bach, Claude Debussy, Robert Schumann, Richard Strauss, Jean Sibelius, Morton Feldman, Richard Wagner, Béla Bartók, Franz Schubert ... Viele Namen für neunzig Minuten Musik, fast so viele wie die Zahl der Formen, welche im Repertorium der Naturkundler die Schneeflocken annehmen. Doch für das Publikum, das nicht gekommen ist, um bewaffnet mit dem Mikroskop detailmorpho­logische Studien zu betreiben, erscheint der Klang bloss als unaufhörliches Gleiten, Rauschen, Rinnen und Rieseln, das wie der Hauch Gottes die Welt und das Universum durchdringt und im Betrachter eine Haltung staunender Aufmerksamkeit erweckt.

 

Neben die Komponente der Musik stellt sich die Komponente der Videoanimation. Die Strassburger Oper hat damit Grégoire Pont beauftragt, einen Kinderbuchillustrator, der im Lauf seines Schaffens dazu kam, Kindern die Musik von Debussy, Ravel, Koechlin oder Poulenc durch bewegte Formen nahezubringen. In der "Schneekönigin" geling es nun dem Videoanimator, den Verlauf von Geschichte und Musik auf dem Gazevorhang nicht bloss zu begleiten, sondern hervorzurufen und durch das Aufspannen von Assoziationsräumen zu ergänzen.

 

Doch nun tritt neben Orchester und Video die Handlung als dritte, inhaltliche Komponente. Für die Aktion der Sänger genügt es, dass Regisseur James Bonas die Vorderbühne bespielt. Sparsam, aber glaubwürdig verkörpern sie ihre Rollen, und nie lenken die szenischen Vorgänge von den Stimmen ab, die als vierte Komponente den Ausdruck der Märchenfiguren ins Spiel bringen.

 

Im vollbesetzten Opernhaus ist derweil kein einziger Huster zu hören. Die Faszination trägt vom ersten bis zum letzten Takt. "Und als sie durch die Tür gingen, merkten sie, dass sie erwachsene Menschen geworden waren, erwachsen und doch Kinder. Die Rosen in der Dachrinne blühten zum offenen Fenster herein, und es war Sommer, warmer, gesegneter Sommer." (Andersen)

 

2019, der letzten Spielzeit vor Corona, war Strassburg "Opernhaus des Jahres". Wenn es nach "Der Schneekönigin", dem Anfang der ersten Spielzeit nach Corona, die Richtung weiterbehält, könnte ihm der Titel erneut zufallen. Wer weiss.

 

Speialeffekt: Die Schneekönigin mit Kai in der Luft. 

 
 
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