So wenig braucht grosses Theater. © Yoshiko Kusano.

 

 

Der talentierte Mr. Ripley. Fassung von Felicitas Zürcher nach dem Roman von Patricia Highsmith.

Schauspiel.

Damian Popp, Hanne Konrad, Jonas Schilling. Bühnen Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 19. September 2021.

 

> Ein Theatermann, der lange im Ausland gearbeitet hatte, wurde in Genf vor seiner Premiere gefragt, ob es etwas gebe, das er an der Schweiz besonders schätze. "O ja", versetze er, "immer wenn ich in die Schweiz komme, gehe ich als erstes in eine Migros und kaufe mir eine Cervelat und ein Büürli. So etwas Gutes findet sich im Ausland nirgends." Doch seit dieser Spielzeit servieren nun die Bühnen Bern "so etwas Gutes" auch an ausgesuchten Spielstätten: Gestern im Tresorraum der Vidmarhallen, heute im Quartierzentrum Tscharnergut und morgen im Fünfsternhotel Bellevue. "Der talentierte Mr. Ripley" benötigt nur drei Schauspieler, ein halbes Dutzend Scheinwerfer, eine Soundanlage – und schon reisst der Flow das Publikum neunzig Minuten lang mit. Er wird genährt von einem Stück, das trägt, einer Regie, die Grips hat, und Schauspielern, die eine Persönlich­keit mitbringen, feine Ausdrucksmöglichkeiten und wahrhaften Charme. Eine Cervelat und ein Büürli, und das Glück ist perfekt. <

 

Mit dem "talentierten Mr. Ripley" gelingt den Bühnen Bern eine Sternstunde des Theaters. Was sie charakterisiert, hat Konstantin Stanislawski beschrieben:

 

Fragen Sie nach einer grossen Vorstellung den Schauspieler, was er auf der Bühne empfunden und was er gemacht hat. Er wird Ihnen nicht antworten können, denn das, was er lebte, war ihm nicht bewusst, und er ist nicht einmal in der Lage, sich an die wichtigsten Stellen zu erinnern. Alles, was Sie von ihm erfahren werden, ist, dass er sich auf der Bühne wohl fühlte und dass er in perfektem Kontakt mit den Mitspielern stand. Daneben wird er nicht in der Lage sein, Ihnen mehr zu sagen.

 

Wir Schauspieler müssen ja dem Publikum die subtilsten Gefühlsnuancen übermitteln. Aber die einzige Art, dorthin zu kommen, ist der Rückgriff auf die Intuition und das Unbewusste. Wird dergestalt die Ausdruckskraft erreicht, hinterlässt sie im Zuschauer eine prägende Erinnerung, denn sie ist immer unerwartet.

 

Wenn Sie das Spiel eines Darstellers von nahem verfolgen, erraten Sie, welchen Ton er in einem bestimmten Moment anschlagen wird. Wenn er nun aber, anstatt die laute oder ernste Stimme zu nehmen, die Sie erwarteten, einen sehr leichten und fröhlichen Ton anschlägt, wird der Überraschungseffekt zur Folge haben, dass Sie überzeugt sein werden, dass es keine andere mögliche Art gibt, die Stelle zu behandeln. Sie werden sich sagen: Wie ist es möglich, dass ich nicht daran gedacht habe? Sie werden überrascht und fasziniert sein.

 

Manchmal genügt eine kleine Koinzidenz zwischen der Wirklichkeit und der Rolle, damit in das umgrenzte Spiel der Bühne so etwas wie ein frischer Wind hereinkommt. Der Schauspieler muss zum Beispiel etwas spontan vom Boden aufnehmen, das nicht vorgesehen war und das er nicht geprobt hat. Er tut das nicht als Schauspieler, sondern in einer ganz alltäglichen, menschlichen Weise, und bringt damit ein Stück Wahrheit ein, an das er glaubt. Diese Wahrheit wird einen frappanten Kontrast zum Einstudierten bilden und ihn manchmal bis ans Ende der Vorstellung tragen.

 

Was der grosse russische Theatermann über die Wahrheit auf der Bühne festgehalten hat, kann das Publikum nun beim "talentierten Mr. Ripley" von Patricia Highsmith "in action" erfahren. Denn hier führt das Zusammenwirken von Stück, Spielort, Publikum und Schauspielern zu einem ungewöhnlich mitreissenden Theaterereignis. Es kommt dadurch zustande, dass Linus Schütz als Träger der Titelrolle in eine Fülle von Zuständen gejagt wird, die zwar alle menschlich nachvollzieh­bar, häufig aber auch alptraumhaft, extrem und randständig sind. Linus Schütz erreicht diese Gipfelpunkte nicht nur virtuos, sondern spielt auch mit ihnen – und dazu auch noch mit sich selbst als Darsteller, mit den Zuschauern als Mitverbündeten und der Situation, die sich zwischen Stück und Raum aufspannt.

 

Aufgenommen, gefasst und ins Evokativ-Abgründige verlängert wird das Drama durch die Mitspieler Vanessa Bärtsch und Jonathan Loosli. Sie nehmen die Bälle gekonnt auf und spielen sie dermassen präzis zurück, dass eine unerklärliche, manchmal gar unerträgliche Spannung den Abend von der ersten bis zur letzten Spielminute zusammenhält.

 

Hinter dem Ereignis steht ein Regisseur mit Sinn für Dosierung und Proportion. Damian Popp heisst der Gestalter des Zeitflusses. Die Musik von Jonas Schilling setzt er als akustische Trigger-Warnung ein und elektrisiert damit die Zuschauer an den entscheidenden Stellen, so dass Raum (Konstantina Dacheva), Wort, Spiel, Kostüm (Hanne Konrad) und Klang zu einer faszinierenden Einheit verschmelzen.

 

Die Bearbeitung der Vorlage durch Felicitas Zürcher zeigt meisterhaftes Gespür für die Anforderungen von Bühne und Narration. Damit wird "der talentierte Mr. Ripley" zu einem überzeugenden künstlerischen Ereignis, das durch die Elemente Humor, Ironie und Selbstironie weit aus dem grauen Durch­schnitt herausragt.

 

"Bringen Sie eine Rolle ins richtige Gleis, und sie wird von selbst losfahren. Sie wird wachsen und sich vertiefen und Sie in den Zustand der Inspiration führen", erklärte Stanislawski. Wer bei der Aufführung des neuen Formats "Schauspiel mobil" der Bühnen Bern erlebt hat, wie im lustfeindlichen Gemeinschafts­raum des Quartierzentrums Tscharnergut "unerwartet" (Stanislawski) das Feuer der Theaterkunst zu brennen begann, kann die Wahrheit dieses Satzes nur bezeugen.

 

Die Musik als akustische Trigger-Warnung ... 

... führt zu den nackten Tatsachen ... 

... der Extremerignisse im Leben. 

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