Erlösung gibt es nur im Märchen. © Janosch Abel.

 

 

Fräulein Julie. August Strindberg.

Schauspiel.

Alexandra Wilke, Doreen Back, Dominique Steinegger, Reto Dietrich. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 13. Juni 2021.

 

> Mit einer feinen, meisterlichen Drehung bringt Regisseurin Alexandra Wilke das angejahrte Stück von August Strindberg in eine neue Position, und siehe: es macht die Wendung mit und geht auf. Kündigte ursprünglich eine tickende Uhr die Rückkehr eines strafenden Grafen an, baut sich nun dadurch Druck auf, dass eine Inspizientin das Theaterpersonal für die Kindervor­stellung des "Froschkönigs" einruft. Folgerichtig spielt die Handlung nicht mehr in einer Schlossküche, sondern in einer Theaterkantine. Dabei behält die kluge, kühne, aber auch humorvolle und hintersinnige Transposition immer noch die Grundantinomie des Einakters bei: Divergenz zwischen Wunsch und Realität, Rolle und Leben. Das mehrschichtige Konzept der Theatralität (Shakespeare: "Die ganze Welt ist Bühne") löst Florentine Krafft passgenau ein. Sie spielt Julie mit dem Aplomb einer Diva und wirkt gerade in der Authentizität, mit der sie die Künstlichkeit gibt, mitreissend und anrührend. <

 

Vielleicht liegt das Geheimnis für die besondere Kraft dieser Inszenierung hier: Alexandra Wilke (das verrät der Programmbogen in 4-Punkt-Schrift) "inszeniert immer wieder Uraufführungen, unter anderem von Henriette Dushe, Anne Habermehl, Johanna Kaptein, Lukas Linder, Susanna Mewe oder Anne Nather". Um Uraufführungen herausbringen zu können, muss eine Regisseurin imstand sein zu verstehen, was der Text verlangt, und nicht nur getrieben sein darzustellen, was ihr "so durch die Rübe rauscht" (Gerhard Stadelmaier). Und sie muss das Sprachgebilde, das ihr vorliegt, so umsetzen, dass es für die Bühne möglich ist, das heisst gegebenenfalls: dem Text nachhelfen, seine Gewichte verschieben, ihn zurecht­rücken, in eine aufschlussreiche Perspektive setzen, von der richtigen Seite her beleuchten, damit räumlich - und gedanklich - eine Vorstellung entsteht, die den Zuschauer verführt, packt, beschäftigt, überzeugt.

 

Diese Kunst lässt jetzt Alexandra Wilke in Bern dem 132 Jahre alten "Fräulein Julie" angedeihen. Für das steile Gefälle zwischen den Schichten der aristokratischen Welt, die uns heute fern liegt, findet sie eine aktuelle Entsprechung: Es ist das ebenso steile, ebenso starre, ebenso patriar­cha­lische Gefüge der Theaterwelt, wo die Eleven, die Komparsen, die Schauspieler, die Dramaturgen, die Stars, der allmächtige Herr Intendant durch Lichtjahre voneinander getrennt sind. Mit dieser Umsetzung beschreibt die Aufführung nicht mehr länger Geschichte, sondern Gegenwart, und sie spielt nicht mehr länger in Schweden, sondern hier. Dadurch bringt uns Alexandra Wilke das Stück nahe, und die Vorgänge in der Küche eines gräflichen Schlosses, welches die meisten Zuschauer in der Strindberg-Zeit nie betreten durften und nur vom Hörensagen her kannten, hat sie transportiert in eine traurige Theaterkantine, also einen Ort, der den meisten heute Lebenden ebenso ehrfurchteinflössend und unzugänglich ist (Bühne: Doreen Back).

 

Julie ist nicht mehr Grafentochter, sondern Intendanten­tochter, und dem wilden Treiben in der Johannisnacht ent­spricht das wilde Treiben einer Premierenfeier. Immer noch gleich unermesslich ist die Distanz zwischen der Diva und dem Statisten, mit dem die junge Frau ihr entfesseltes Spiel beginnt. Über die Dialogführung sagt Strindberg, er habe "die Hirne unregelmässig arbeiten lassen, wie sie es in Wirklich­keit tun, wo in einem Gespräch kein Thema bis auf den Grund erschöpft wird, sondern wo zwei Hirne ineinandergreifen wie zwei Zahnräder. Und daher irrt auch der Dialog umher, er versorgt sich in den ersten Szenen mit einem Material, das späterhin bearbeitet wird, aufgenommen wird, wiederholt, entfaltet wird, erweitert wird, wie das Thema einer Musik­komposition."

 

Strindbergs musikalische Kompositionsweise nimmt Alexandra Wilke auf und verlängert sie ins Szenische, wo nicht nur Dialogthemen entfaltet, bearbeitet und erweitert werden, sondern auch Requisiten und Momente. Durch sie schafft die Regie grosse Bögen, und das heisst: Zusammenhänge von beklemmender Evidenz. Das Kostüm von Efeuranken (Kostüme: Dominique Steinegger), in dem David Berger am Anfang tanzend auftritt wie der Wilde Mann an der Mittsommernachtsfeier, kehrt am Schluss wieder als Kostüm des Baum-Manns für die Kindervor­stellung des "Froschkönigs".

 

Mit Spielzügen dieser Art gelingt es Alexandra Wilke, das dualistische Weltbild Strindbergs um eine dritte und vierte Dimension zu erweitern. Es geht in "Fräulein Julie" jetzt nicht mehr allein um die sozialen Fragen des Herr-Knecht- und Mann-Frau-Verhältnisses, sondern auch um die Beziehung von Kunst und Wirklichkeit, die sich in der Aufführung gleich mehrfach spiegelt: einmal zwischen der Märchen- und der Theaterwelt, dann zwischen dem Ernst der grimmschen Fassung und der Infantilität einer landläufigen Kindervorstellung, und schliesslich zwischen dem Verhextsein und dem Erlöstwerden, was sich wiederum spiegelt im festen Bibelglauben der Köchin ("Der Erlöser ist am Kreuze gestorben für alle unsere Sünden, und wenn wir gläubig und mit bussfertigem Sinne zu ihm kommen, so nimmt er alle unsere Schuld auf sich.") und der märchen­haften Verheissung anderseits: "Der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche, aber es waren nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war."

 

Als Uraufführungsregisseurin bringt Alexandra Wilke ein feines Gespür für den inneren Rhythmus ihrer Vorlagen mit, und diese Sensibilität manifestiert sich bei "Fräulein Julie" in der klugen Gestaltung der Gänge, in der feinen Abstufung des Lichts (Reto Dietrich) und im hintergründigen Spiel mit Musik, Pausen und Requisiten. Das Ständermikrofon, sonst nur banaler Bestandteil des Regie­theaters, wird hier gleich als mehrfach sprechendes Zeichen eingesetzt. Zuerst erinnert es auf seinem einsamen Gestell an die Ansprache des Intendanten, mit der – es ist schon geraume Zeit her, die Gäste sind abgezogen – die Premierenfeier zum "Froschkönig" eröffnet worden war. Nun braucht es Julie, um mit ihrer elektronisch verstärkten Stimme Jean zu bezirzen. Und am Ende findet es Christine beim Aufräumen. In einer rührend naiven Szene sendet nun das kleine Wesen die Botschaft seiner Liebe an den entglittenen Geliebten – und damit an den Vater des Kindes, das unter ihrem Herzen heranwächst. An diesem Punkt vereinigt die Inszenierung Hilflosigkeit mit Humor, und die Sensibilität der Regisseurin beweist sich am Mitleid mit den Figuren.

 

Unter solchen Voraussetzungen können sich die Schauspieler entfalten. Florentine Krafft, die Bern am Ende der Spielzeit verlässt, war noch nie so gut wie in diesem letzten Stück; aber sie bekam auch, spielplanbedingt, vorher nie Gelegenheit, ihr Können an einer grossen Rolle zu beweisen. Nun fallen die Dimension der Figur und die Dimension der Schauspielerin in eins. Kein Wunsch bleibt offen.

 

David Berger verkörpert den unbedeutenden und innerlich unsicheren Jean dadurch glaubwürdig, dass er ihn nicht zum Gockel macht, sondern ihm seine weiche, schwankende Unentschiedenheit lässt. Damit wird klar, dass es auch für ihn am Ende keine Erlösung geben wird, sondern nur das Elend des Weiterwurstelns. Christine (in dieser Inszenierung "Kristin") ist mit Aline Beetschen hervorragend besetzt, was Gestalt, Ausstrahlung, Intensität und Dosierung des Spiels betrifft. Artikulatorisch aber hat sie noch ein rechtes Wegstück zu machen, bevor sie an die Josefstadt – und damit an die erste Sprechbühne des deutschen Sprachraums – weiterkommt. Bis jetzt reicht's erst fürs Salzburger Landestheater.

 

Wenn Alfred Kerr im "Tag" vom 12. Mai 1904 "Fräulein Julie" als "Jahrhundertparadigma" bezeichnet, so hat das Berner Schauspiel nun das Stück erfolgreich ins 21. Jahrhunderts hinüberbefördert. Und da spricht es jetzt zu uns.

 

Gleich ist es aus mit den zweien unten. 

Jetzt erklingt Her Master's Voice. 

Und der Statist wird erniedrigt. 

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