Auslöser der Handlung: Eine Autopanne. © Joel Schweizer.

 

 

Die Panne. Friedrich Dürrenmatt.

Schauspiel.

Cilli Drexel. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 17. Juni 2021.

 

> Ein wagemutiges Konzept. Aber es geht auf. – Am Anfang erkennt man nur, wie Inszenierung und Schauspieler an Situation, Rolle und Stück vorbeispielen. Theatralisch liegt die Sache also schief. Dafür ist inhaltlich alles im Lot. Alfredo Traps verkörpert nichts anderes als einen schlichten Handelsvertreter, dem eine banale Autopanne passiert ist. Doch wenn Friedrich Dürrenmatt – und mit ihm die Inszenierung von Cilli Drexel – beginnt, an den Stellschrauben zu drehen, tritt die Schräglage zutage, in der sich der Durchschnittsvertreter Traps in Wirklichkeit befindet. In vino veritas. Je besoffener die Figuren werden und je unmöglicher sich die Schauspieler benehmen, desto nüchterner wird der Zuschauer. Das übertriebene theatralische Getue führt, wie in der griechischen Tragödie, in die nackte Wahrheit. "Daneben" ist nicht länger die Aufführung, sondern die Welt, in der wir leben. Und aus der Ferne ertönt F.D.'s Lachen. <

 

"Die Panne" gehört zur Sorte der aufdeckenden Stücke. Bei ihnen liegt das Ereignis in der Vergangenheit, kommt aber durch die Sprache ans Licht. Das Muster bilden die "Gerichtssaaldramen". Sie spielen in einem einzigen Raum (Einheit des Orts). Die Verhandlung läuft geradlinig ab (Einheit der Zeit). Das Personal ist reduziert auf fünf Kräfte: (1) Das Opfer, mit dem gespielt wird, (2) die bedrängende Kraft, (3) die beistehende, (4) die betrachtende, (5) die für den dramaturgischen Verlauf frei einsetzbare (Fachsprache: "utilité", bzw. "fifth business").

 

Diese Konstellation findet sich auch in der "Panne". Als Ort wird eine abgelegene Villa gesetzt. Die Lage erklärt, warum während des Spiels niemand von aussen hinzutritt. Die Figuren bleiben unter sich. Es handelt sich um eine Herrenrunde, die Tag für Tag die alten Berufe spielt: Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Henker. Damit symbolisieren die Männer den nimmermüden ewig mahlenden Justizapparat, der stets auf neue Nahrung angewiesen ist. Als Opfer dient diesmal der Vertreter des Durchschnitts­menschen (bei Dürrenmatt ironischerweise auch beruflich ein Vertreter), und Auslöser der Handlung bildet eine Autopanne, die den Vertreter veranlasst, den Spielort aufzusuchen.

 

In der Verhandlung geht es nun darum, das Verbrechen herauszu­finden, das hinter dem Durchschnittsvertreter liegt. Die nüchterne (und gern auch trockene) Wahrheitssuche zeichnet Dürrenmatt als kollektive Besäufnis. Der Wein löst die Zungen. Er inspiriert. Er macht das Verfestigte flüssig. Je weiter sich der Rebensaft in den Blutgefässen verteilt, desto stärker mischen sich in den Gehirnen die Bereiche des Möglichen und des Wirklichen. Die Verschmelzung führt zu neuen Einsichten und zeugt gleichzeitig für die alte Wahrheit: In vino veritas.

 

Regisseurin Cilli Drexel geht noch einen Schritt weiter. Angeregt von der Tatsache, dass der Pfarrerssohn Friedrich Dürrenmatt seine Dramen stets vor einen endzeitlichen, und das bedeutet auch: letztgültigen Horizont stellte (also Varianten des jüngsten Gerichts durchspielte wie beispielsweise im "Besuch der alten Dame", den "Physikern", "Ein Engel kommt nach Babylon"), inszeniert sie den Vertreter des Durchschnitts­menschen als Vertreter des Menschen schlechthin, das heisst als "Menschensohn". In Biel-Solothurn endet er auf der Schräge mit einem Haupt voll Blut (hier Wein) und Wunden, nur bedeckt mit einem Lendenschurz (hier einem Slip).

 

Damit bildet das letzte Bild eine Klammer mit dem ersten. Das Opfer wird nämlich an einen Tisch geführt, der gleich aufgestellt ist wie bei Da Vincis "letztem Abendmahl". Da ist einer im Begriff, "all unsere Schulden" auf sich zu nehmen. Aber im Unterschied zu Alfredo Traps, und damit uns, ist Jesus zutiefst schuldlos. Darum kann er mit seinem Opfer die ganze Menschheit befreien. In der "Panne" jedoch befreit Traps nur gerade sich selbst. Und wozu? Um der Erkenntnis zu entfliehen? Um das Geschehene rückgängig zu machen? Dafür ist der Tod keine Lösung. Um sich "der gerechten Strafe" zuzuführen? Auch keine Lösung. Und schon gar keine Erlösung. Wegblicken und Wegschwemmen bringt's anderseits auch nicht. Was dann? - Da Dürrenmatt Dichter ist und nicht Ideologe, zeichnet sein Werk nicht den Weg zum Heil, sondern zum Unheil. Er malt das Menetekel: Gewogen und zu leicht gefunden. An uns, die Schlüsse zu ziehen.

 

Diesen abgründigen Inhalt verhandelt nun die Inszenierung von Cilli Drexel auf nonchalante und damit wagemutige Weise. Stoff und Form stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander: Hier der strenge Gedanke, da sein schludriger Ausdruck. Am Anfang sieht man nur ihn und denkt: Das ist aber fragwürdig. Am Schluss jedoch erweist sich das Fragwürdige als das Endgültige. An dieser Stelle lacht Dürrenmatt auf: "Touché!"

 

Gerne hätte man die Darstellung des Schludrigen durch das Herrenquintett von Matthias Schoch, Günter Baumann, Vilmar Bieri, Daniel Hajdu und Hanspeter Bader präziser, feiner, inspirierter gesehen, und vor allem: mit eindrücklicherer Charakterzeichnung. Aber das Ensemble hat seine Grenzen. Man muss sie hinnehmen. Die Aufführung ist immer noch gut genug. Und der Volksmund weiss: "Es ist alles möglich, nur nicht, sich die Nase abbeissen."

 

Auf dem Weg zum jüngsten Gericht ... 

... ist der Angeklagte noch zuversichtlich ... 

... bis er fällt und nicht mehr hochkommt. 

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